ArmAT und aufrechter Gang

7. Januar 2010

Die Entwicklung des aufrechten Ganges gehört traditionell zu den zentralen Fragestellungen, wenn es um die Evolution unserer Vorfahren geht. Der Beitrag, den die Armed Ape Theory zu dieser Frage leisten kann ist jedoch vergleichsweise gering (gemeint ist: im Vergleich zu anderen zentralen Fragestellungen - nicht im Vergleich zu anderen Erklärungsansätzen für den aufrechten Gang). Dies liegt daran, dass der aufrechte Gang sehr früh entwickelt wurde, vermutlich vor über 5 Millionen Jahren. Der zeitliche Schwerpunkt der Anpassungen an das Werfen liegt dagegen im Bereich von ca. 2 Millionen Jahren vor unserer Zeit.

Angesichts des Körperbaus der Australopithecinen und der Hinweise darauf, dass diese auch Savannen - Ressourcen in beachtlichem Umfang genutzt haben gehe ich immer noch davon aus, dass sie Waffen intensiver nutzten, als wir es von rezenten Schimpansen kennen. Der aufrechte Gang erhöhte dabei einerseits ihre Leistungsfähigkeit im Umgang mit Stöcken und Steinen und verringerte andererseits ihre Chancen auf eine erfolgreiche Flucht. Im “Zeitalter der Werfer” habe ich dies zum Anlass genommen, um zu den zahlreichen ohnehin diskutierten (und in der Regel nicht allzu glaubwürdigen) Thesen, warum es zur Entwicklung des aufrechten Ganges gekommen sei, eine weitere zu stellen. Ich habe vermutet, dass es sich bei der Umstellung auf den aufrechten Gang auch schon um einen frühen Teil der Anpassungen an das Werfen gehandelt hat, wobei neben der Tätigkeit des Werfens selbst auch der Transport von Steinen Erwähnung fand. Eher am Rande habe ich damals auch darauf hin gewiesen, dass neben geworfenen Steinen bei den Australopithecinen auch Stöcke eine erhebliche Rolle gespielt haben könnten, so dass auch Anpassungen an die Nutzung dieser Waffen eine denkbare Erklärung für die Entwicklung des aufrechten Ganges darstellen. Ich war mir allerdings auch der Tatsache bewußt, dass Überlegungen zur Entwicklung des aufrechten Ganges ausgesprochen spekulativ sind. Der Umfang der verfügbaren Evidenz zu diesem Vorgang ist einfach zu gering um Hypothesen wirksam auf die Probe stellen zu können. Es war mir daher sehr wichtig fest zu stellen, dass es für meine Überlegungen zum Verlauf der letzten 2.5 Millionen Jahre der menschlichen Evolution völlig irrelevant ist, ob es sich bei den Eigenschaften der Australopithecinen, die ihnen bei der Nutzung von Waffen zum Vorteil (immer im Vergleich zu rezenten Schimpansen) gereichten bereits um echte Anpassungen an diese Tätigkeiten handelte oder um Präadaptationen, die sich als Anpassungen an andere Tätigkeiten entwickelt hatten.

Im Vergleich zu meinen Überlegungen z.B. zur Gehirnentwicklung waren meine Ausführungen zum aufrechten Gang im ZdW also wesentlich spekulativer und schwerer zu überprüfen. Sie stellten keineswegs den Kern meines Modells der menschlichen Evolution dar - und doch sind es ausgerechnet diese Überlegungen, die bisher den größten Teil der - allerdings insgesamt sehr bescheidenen - Reaktionen aus der deutschen Fachwelt nach sich zogen. Holger Preuschoft hat mir bescheinigt, dass meine Überlegungen aus anatomischer Sicht durchaus Sinn machen. Es wäre wirklich zu begrüßen, wenn andere Wissenschaftler sich aufraffen könnten die Teile meines Modells, die in ihre jeweilige Zuständigkeit fallen einer ähnlichen Überprüfung zu unterziehen. Auch Carsten Niemitz ist auf meine Überlegungen zur Entwicklung des aufrechten Ganges in seinem Buch “Das Geheimnis des aufrechten Ganges” eingegangen - allerdings hat er sich dabei wohl auf das gestützt, was bei einem flüchtigen Überfliegen meines Buches in seiner Erinnerung hängen geblieben ist. Jedenfalls hat er mein Modell der menschlichen Evolution völlig falsch dargestellt und sich bei seiner Diskussion darauf beschränkt dieses Zerrbild zu kritisieren. Ich habe im ZdW ganz klar die Abwehr von Fressfeinden als die Tätigkeit in den Vordergrund gestellt, die zur Entwicklung des aufrechten Ganges geführt haben könnte. Niemitz unterstellt mir angenommen zu haben, dass Revierkonflikte mit Artgenossen entscheidend gewesen seien. Es ist zwar korrekt, dass derartige Konflikte in meinem Modell eine entscheidende Rolle spielen - aber das gilt ausdrücklich nur für die letzten 2 Millionen Jahre. Mit Verwunderung musste ich zur Kenntnis nehmen, dass es anscheinend dem Philosophen Peter Sloterdijk wesentlich leichter gefallen ist die Kernaussagen meines Buches richtig zu erfassen als dem Paläoanthropologen Carsten Niemitz. Aber schauen wir uns doch einmal genauer an, was dieser Fachmann zu meiner Theorie zu schreiben hatte. Er hat mir immerhin den Ehrenplatz am Ende der von ihm (in der Regel zurecht) zerpflückten Hypothesen zur Entstehung des aufrechten Ganges eingeräumt und verdient daher eine eingehende Würdigung. Ich werde seinen Text nun abschnittsweise zitieren und jeweils meinen Senf dazu geben:

Anpassungen an das Werfen, so eine neue Theorie von Kirschmann, sei einer der wesentlichen Antriebe für die Evolution des Menschen gewesen.” …

Vielen Dank für die Blumen - von einer Theorie zu sprechen, traute ich mich zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht - dafür habe ich einen viel zu hohen Respekt vor diesem Begriff. Im ZdW sprach ich noch von einem “Modell”, erst heute, nach 10-Jähriger “Reifezeit” gestehe ich meinen Überlegungen den Rang einer wissenschaftlich begründeten Theorie zu.

“Nach dieser in vieler Hinsicht interessanten Theorie hätten die Vormenschen in verhaltensgenetischer Übereinstimmung mit Schimpansen ebenfalls feindselig-kämpferische, kriegsähnliche Auseinandersetzungen ausgefochten. dies sei ein Antrieb für die Aufrichtung der Urhominiden gewesen.”

Dies ist falsch. Im ZdW habe ich vermutet, daß die Aufrichtung im Zusammenhang mit dem Vorstoß in Savannenhabitate statt gefunden habe, als Reaktion auf die höhere Gefährdung durch Raubtiere in diesem Lebensraum. Die kriegsähnlichen Auseinandersetzungen spielen erst beim Übergang zum Homo erectus eine Schlüsselrolle für meine Theorie. Interessanterweise hat Niemitz bei der voraus gegangenen Behandlung anderer Savannen-Theorien das Raubtier-Problem klar ausgearbeitet und deutlich gemacht, daß nach seiner Ansicht keine der anderen angebotenen Thesen eine echte Erklärung dafür bietet, daß langsame, bipede und nicht allzu große Homininen es sich leisten konnten in die Savanne hinaus zu gehen, wie dies z.B. die Fußspuren von Laetoli belegen. Auch er selbst bietet mit seiner Hypothese noch nicht einmal im Ansatz eine Erklärung für dieses Rätsel, das mich im ZdW zu der Annahme geführt hatte, daß diese Homininen bewaffnet gewesen sein müßten. Ausgerechnet bei der einzigen von ihm zitierten Hypothese, die eine echte Lösung für das auch von ihm thematisierte, für Zweibeiner in der Savanne kritische Raubtier-Problem anbietet “vergißt” Carsten Niemitz die Stichhaltigkeit der Argumentation zu überprüfen.

“Unter frei lebenden Schimpansen gibt es tatsächlich enorm brutale Überfälle und Kämpfe, die ohne weiteres zum Tod des überfallenen Tieres führen können. Wie gezielt und schnell Würfe von Menschenaffen sein können, erlebte ich erst wieder im letzten Sommersemester, als ich mit meinen Studenten im Zoologischen Garten Berlin die Primatologievorlesung hielt.
Der Chef der einen Gorilla-Gruppe, “Derrick”, kennt mich seit vielen Jahren. Wenn ich allein komme, grüßt er mich, gewissermaßen mit einem freundlich zwinkernden Seitenblick. Wenn ich aber mit meiner “ganzen Horde” komme, bei der ich die zentrale Person, sozusagen das Alpha-Männchen jener Menschengruppe, bin, dann findet er meinen Besuch meistens weniger nett. Eines Tages setzte er sich unweit meiner Studentengruppe ruhig in seinem Gehege hin, beobachtete uns und nestelte ein wenig mit den Fingern. Ich erkannte jedoch nicht, dass er nicht mit seinen eigenen Fingern am Boden spielte, sondern dass er heimlich ein paar Erdklumpen zusammenkratzte - die er mir plötzlich und zielsicher ins Gesicht warf. Kein Augenblick mehr, um sich zu ducken! Gott sei dank war kein Steinchen mit dabei - und meine Brille blieb heil. Aber dieser erfolgreiche Werfer ist keineswegs aufrecht, sondern ein Vierfüßer.” …

Sollte diese nette Anekdote etwa so etwas wie ein Gegenargument sein - zumindest der letzte Satz läßt auf diese Intention schließen. Bei genauerer Analyse enthält er wenn überhaupt, dann nur Argumente für die Werfer-Hypothese. Dass Menschen nicht die einzigen Affen sind, die Werfen können und dies gelegentlich auch tun ist eine wichtige Voraussetzung dafür, dass es überhaupt zur Spezialisierung auf das Werfen kommen konnte und wurde von mir selbstverständlich im ZdW als Argument für das Modell eingehend erörtert. Nur ein Vorfahre, der bereits einiges auf diesem Gebiet zu leisten vermochte konnte positiv selektiert werden, wenn er sich beim Vorstoß in die Savanne auf diese Tätigkeit stützte. Einem sich nähernden, hungrigen Löwen gegenüber hätte er sich aber bestimmt nicht hin gehockt und versucht ihn mit einem Wurf erst dann zu überraschen, wenn der Löwe keine Zeit mehr zum Reagieren gahabt hätte. Vielmehr hätte er eine Imponierveranstaltung, vermutlich auf zwei Beinen, durchgeführt und diese mit dem Wurf gekrönt. Und er hätte dabei sicher einen ordentlichen Stein - sofern vorhanden - einigen Erdkrumen vorgezogen.
Auch Menschen können natürlich sitzend werfen. Mit fixiertem Oberkörper - also einem Wurf aus der Schulter heraus - erreichen geübte Werfer immerhin bereits die Hälfte ihrer maximalen Abwurfgeschwindigkeit. Aber halbe Geschwindigkeit bedeutet auch halben Impuls, doppelte Reaktionszeit für den Gegner, ein Viertel der kinetischen Energie und ein Viertel der Reichweite. Das ist in etwa das, was ich aus rein anatomischer Sicht auch Schimpansen oder Gorillas theoretisch zutrauen würde - das sind immerhin Abwurfgeschwindigkeiten von bis zu 80 km/h und Reichweiten über 30 Meter. Tatsächlich gemessene Würfe mit Steinen bleiben jedoch bisher weit hinter diesem theoretischen Potential und sind in der Regel schlecht gezielt, häufig mißglücken sie sogar so gründlich, dass der Werfer selbst in Gefahr gerät, sich zu verletzen. Nur anekdotische Erzählungen über Würfe mit Kot, oder wie hier, mit Erdklumpen erwecken den Anschein, als würden unsere nächsten lebenden Verwandten dieses theoretische Potential gelegentlich ausschöpfen und dabei ausgesprochen zielsicher agieren. Dies hat vermutlich mehrere Gründe.
Der erste Grund ist die subjektive Wahrnehmung von Lebewesen in deren Evolution das Beworfenwerden über 2 Jahrmillionen hinweg eine zentrale Rolle gespielt hat. Wir neigen instinktiv dazu es sehr ernst zu nehmen, wenn wir beworfen werden, und wenn mangels Erfahrungen mit geübten Menschen ein Affe der imposanteste Werfer ist, mit dem wir es je zu tun gehabt haben, dann räumen wir dem Affen in unserem Weltbild einen unverdient hohen Rang als Werfer ein. Der Mimikry-Effekt funktioniert nach ähnlichen Prinzipien - eine harmlose Schwebfliege wird gelegentlich für gefährlich gehalten, weil sie einer Wespe ähnelt. Ein Polizist, der bei einer Demo mit Pflastersteinen beworfen worden ist und seine Gesundheit nur dem Schutzhelm verdankt, den er vorsorglich getragen hat, kann über die Sorge, die Prof. Niemitz hier wegen seiner Brille an den Tag gelegt hat nur müde lächeln.
Ein zweiter, möglicher Grund ist die Art der Wurfgeschosse. Kot und Erdklumpen lassen sich besser Handhaben, als ein Stein. Letzterer besitzt ein nennenswertes Trägheitsmoment und daher ein “Eigenleben”. Gelingt es aber nicht, ihn bei einem Wurf mit voller Kraft zu kontrollieren, dann bringt man womöglich sich selber in Gefahr. Schimpansen in freier Wildbahn, die tatsächlich mit Steinen werfen, neigen vermutlich dazu, ihre Kräfte aufgrund entsprechender schmerzhafter Erfahrungen so weit zu zügeln, dass sie den Stein einerseits mit einiger Wahrscheinlichkeit noch kontrollieren können und andererseits das eigene Risiko für den Fall, das es doch nicht klappt, begrenzt wird. Ich vermute auch, dass Kot bzw. eine Vielzahl von Erdklumpen als Wurfgeschosse über eine gewisse Schrot - Charakteristik verfügen, so dass beworfene Personen auch bei schlecht gezielten Würfen noch getroffen werden können. Dies erweckt dann Den Eindruck von Zielgenauigkeit und macht - zusammen mit unserem angeborenen Respekt vor aggressiven Werfern - auf subjektivem Erleben beruhende, anekdotische Erzählungen weitgehend unbrauchbar. Konkrete Meßreihen wären äußerst wünschenswert.
Warum haben Primatologen es bis heute nicht für nötig erachtet gefangene Menschenaffen von klein auf im Umgang z.B. mit Baseballbällen zu üben und auf diese Weise zuverlässige Vergleichswerte für das Leistungspotential von Menschen und Menschenaffen beim Werfen zu gewinnen? Es sind immerhin schon fast 140 Jahre vergangen, seit Darwin einen möglichen Zusammenhang zwischen dem gezielten Werfen einerseits und der Evolution der Hand und des aufrechten Ganges andererseits aufgewiesen hat. Es ist beschämend, dass Primatologen auch heute noch auf Anekdoten zurückgreifen müssen, um hier überhaupt etwas zur Diskussion beitragen zu können.

“Leider ist auch diese Theorie des Werfens als Auslöser für Aufrichtung monokausal.” …

Ich liebe Paläoanthropologen, die sparsame Erklärungsansätze zurückweisen, weil sie sparsam sind. Sie benehmen sich wie meine kleine Tochter vor einigen Jahren, die nach ein paar gescheiterten Anläufen Fahrradfahren zu lernen wütend das Fahrrad in die Ecke warf und erklärte, dass sie es nie lernen würde. Der Hinweis, dass alle anderen Menschen es letztlich auch geschafft haben, hilft bei einem derartigen, schmollenden Kind wenig - und bei (einigen) Paläoanthropologen ebenso. Seit Darwin mit seiner Evolutionstheorie - einem klassischen Beispiel für einen erfolgreichen und ausgesprochen sparsamen Erklärungsansatz - die theoretischen Grundlagen für die Paläoanthropologie geschaffen hat, sind die Erforscher des menschlichen Ursprungs immer wieder mit sparsamen Erklärungsansätzen baden gegangen und stehen nun schmollend in der Ecke und verkünden allen Ernstes, dass Sparsamkeit auf ihrem Fachgebiet im krassen Gegensatz zu allen anderen Naturwissenschaftsdisziplinen kein Qualitätsmerkmal, sondern ein Ausschlußkriterium für Hypothesen sei. Günter Bräuer - der bei mir nebenbei bemerkt unter dem Verdacht steht, der intelligenteste Paläoanthropologe Deutschlands zu sein - hat mir gleich bei unserer ersten Begegnung eröffnet, dass es seiner Ansicht nach keine einfache Erklärung für die menschliche Evolution geben könne. Dabei wies er auf die verwirrende Komplexität der verfügbaren Evidenz hin. Wenn man dieser Argumentationslogik jedoch zu folgen bereit ist, dann gelangt man zu dem Schluß, das es so etwas wie Darwins Evolutionstheorie gar nicht geben kann.
Aber es gibt immer Hoffnung - meine Tochter hat längst gelernt Fahrrad zu fahren. Von den Paläoanthropologen sollten wir nicht erwarten, dass sie ihre Schwäche genauso schnell überwinden - Erwachsene lernen langsamer als Kinder und solange sie schmollend in der Ecke stehen, lernen sie gar nicht. Übrigens ist meine Theorie gerade beim aufrechten Gang genau genommen leider nicht ganz so monokausal wie von Niemitz verkündet.

“Aber wenn man schon das Verhalten der Schimpansen als Erklärung bemüht, sollte jenes des Menschen als Basis für die Überzeugungskraft passen. Für Anpassungen an werfendes Verhalten gibt es in den ersten Millionen Jahren der aufrechten Menschheit keine Belege. Mit Sicherheit waren die Menschen erst lange nach ihrer Entstehung zielende Werfer, nämlich nachdem sie die Jagdwaffe der Speere vor rund 400 000 Jahren erfunden hatten.”

 Wer im Glashaus sitzt, sollte bekanntlich nicht mit Steinen werfen. Hier stellt Niemitz an mich Forderungen, die er mit seinem eigenen Ansatz noch weniger erfüllt, als ich. Immerhin gibt es in der archeologischen Überlieferung seit mindestens 2,5 Millionen Jahren Steine, die von unseren Vorfahren nachweislich herumgetragen wurden und sich hervorragend als Wurfsteine geeignet haben. Und wie Carsten Niemitz selbst erwähnt sind die ältesten nachgewiesenen Wurfspeere der Menschheit beachtliche 400 000 Jahre alt - die ältesten Belege für die Nutzung von Meeresressourcen am Pinnacle Point, die einigermaßen zu seiner eigenen These passen würden sind noch nicht einmal halb so alt.
Um ehrlich zu sein, bin ich mit der archäologischen Fundsituation in der Tat aus Sicht der Entwicklung des aufrechten Ganges nicht ganz zufrieden - wenn unsere Vorfahren tatsächlich beim Übergang zur Bipedie Steine zu ihrer Verteidigung mit sich herum getragen haben, dann sollten sich auch in entsprechend alten Fundschichten entsprechende Steine abseits ihrer natürlichen Lagerstätten finden lassen. Dies ist jedoch nach bisherigem Forschungsstand erst seit ca. 2,6 Millionen Jahren der Fall. Sollte dies so bleiben, dann wäre es sinnvoll zumindest den Transport von Steinen aus dem Erklärungsansatz zu streichen. Die Entwicklung des aufrechten Ganges im Kontext von Anpassungen an die Nutzung von natürlich vorkommenden Waffen, wie Stöcken und Steinen zu sehen, hätte aber immer noch den Vorteil, erklären zu können, wieso Australopithecinen es sich leisten konnten aufrecht gehend und ohne lange Eckzähne in die Raubtierverseuchten Savannen vor zu stoßen.

“Ob Steine als ebenso einfache wie effektive Distanzwaffen bei Auseinandersetzungen zwischen Urhominiden ebenso selten eingesetzt wurden wie bei heutigen Menschen fast aller Kulturen, muss offen gelassen werden. Mit Speeren ausgetragene Kämpfe, wie sie in Neuguinea zu beobachten sind, stellen eine fast absolute Ausnahme dar. Außerdem sind sie mit Sicherheit kulturell sehr viel jünger als der funktionell-anatomische Erwerb der Africhtung in der Evolution. Hingegen wird, anstatt mit Steinen zu werfen, bis in heutige Zeiten ebenso lustvoll wie grimmig gerauft. Wie wir alle wissen geschieht dies nicht nur in schriftlosen Kulturen! Und auch bei Schimpansen gilt dieselbe starke bevorzugung.” …

Und wieviele rezente Populationen zeichnen sich dadurch aus, dass sie einen nennenswerten Beitrag Ihrer Ernährung watend im Uferbereich erwerben? (klirrr)
Sich mit Steinen zu bewerfen ist viel zu gefährlich, um dies spasseshalber zu tun. Kleinkinder fangen schon sehr früh an, sich im Werfen zu üben und Eltern fangen heute ebenso früh an, sie daran zu hindern. Wir erlernen das Werfen nach einem angeborenen Lernprogramm - wir benötigen dafür ebenso wie beim aufrechten Gang keine Unterweisung, was wir jedoch sehr wohl brauchen, ist ausreichende Übung. Schon im Altertum waren Spitzenleistungen im Werfen in der Bevölkerung nur noch dünn gesät. Steinewerfer wurden zwar gerne in spezialisierten Einheiten eingesetzt - wie zum Beispiel von Alexander dem Großen in der Entscheidungsschlacht gegen die Perser, diese Einheiten rekrutierten sich aber bereits aus Hirten. Wo es Wölfe gibt, üben sich Hirtenjungen auch heute von frühester Kindheit an im Steinewerfen - weil sie damit ein sehr sparsames und effektives Hilfsmittel zum Schutz ihrer Herden an die Hand bekommen. Für Wölfe genügen hierbei selbst die Wurfleistungen geübter Knaben. Für den Einsatz gegen gepanzerte und mit moderneren Waffen ausgestattete Gegner waren auch erwachsene Steinewerfer dagegen schon in der Antike nur noch als Spezialeinheit innerhalb einer integrierten, aus verschiedenen Waffengattungen zusammengesetzten Armee zu gebrauchen, spielten darin jedoch immer noch eine nicht zu unterschätzende Rolle. Auch um auf Menschen zu stoßen, die sich mit Wurfspeeren bekämpft haben muß man nicht erst nach Neuguinea schauen. Die Wurfleistungen unserer eigenen Vorfahren haben die Römer derart beeindruckt, dass sie ihnen in Ableitung von ihrer bevorzugten Waffe, dem (auch für den Nahkampf geeigneten) Wurfspeer Ger den Namen Germanen gaben. Das Werfen von Speeren spielte sowohl für die griechische als auch für die römische Kriegsführung in der Antike eine bedeutende Rolle - dennoch wurden gleichzeitig immer noch auch Wurfsteine, oder, wie durch die Römer in der Varusschlacht, geworfene Bleikugeln eingesetzt. Fortschreitende Waffentechnik einerseits und mangels Übung ebenso fortschreitende Degeneration der Wurfleistungen andererseits ließen Werfer in Europa im weiteren Verlauf von den Schlachtfeldern verschwinden - bis zu einer gewissen Renaissance infolge der Entwicklung von Handgranaten. Wo bei gewalttätigen Konflikten keine höher entwickelte Waffen zur Verfügung stehen, sind geworfene Steine auch heute die bevorzugte Waffe. Man kann das bei so ziemlich jeder außer Kontrolle geratenden Demonstration rund um die Welt beobachten.
Wo man werfen kann, ohne andere zu verletzen, wird dies trotz mangelnder Übung auch heute noch mit Begeisterung praktiziert. Eine Schneeballschlacht ist mit Sicherheit kein geringeres Vergnügen als miteinander raufen. Auch die beliebtesten Mannschaftssportarten verweisen auf unsere Werfer-Natur. Wenn es nicht darum geht mit der Hand gezielt zu werfen, wie beim Baseball, Basketball oder Handball, dann doch zumindestens darum, irgendetwas entferntes mit irgendeinem Gegenstand zu treffen - wie das Tor mit dem Ball beim Fußball. Das Handspiel ist beim Fußball gerade deswegen verboten, weil wir unter Zuhilfenahme der Hände zu geschickt wären. Mit einem Handikap ist das Spiel interessanter - dennoch nutzen wir dabei eine Vielzahl von Werfer-Anpassungen - insbesondere des Gehirns. Große Entfernungen müssen geschätzt, Flugbahnen vorhergesehen werden usw.. All das geht beim Menschen nur so gut, weil er ein spezialisierter Werfer ist. Und die Freude am Treffen beruht beim Fußball auf den gleichen angeborenen Mechanismen, wie beim Dosenwerfen auf dem Jahrmarkt.
Mit aktuellen oder aus geschichtlichen Zeiträumen bekannten Beobachtungen werfender Menschen kann man mühelos viele Bücher füllen, das Alles ist jedoch nach meiner Einschätzung im Wesentlichen nur Kosmetik. Ich habe im ZdW in aller Deutlichkeit klar gemacht, dass man sehr leicht in die Irre läuft, wenn man herausgegriffene Aspekte des komplexen und sehr vielseitigen Verhaltens moderner Menschen zur Grundlage für Überlegungen über den Verlauf der menschlichen Evolution macht. Man muß sich irgendwann entscheiden, ob man in erster Linie nach belastbaren Belegen für seine Theorie, oder nach plakativen, dem Publikum vertrauten Argumenten für deren Vermarktung sucht.

 … “Aber nicht nur das Werfen selbst, für das es, beiläufig angemerkt, auch nur bei Männern die sehr guten anatomischen Anpassungen gibt, soll Anlass für die aufrechte Zweibeinigkeit gegeben haben.” …

Dass Männer körperlich deutlich besser für das Werfen optimiert sind, habe ich im ZdW ausführlich behandelt, weil dies ein schwerwiegender Beleg dafür ist, dass es sich beim Werfen um eine echte biologische Anpassungsleistung des Menschen handelt. Hier besteht eine Analogie zu den längeren Eckzähnen, die Männchen bei anderen Primatenarten aufweisen. Grundsätzlich gilt für die meisten Säugetiere die Regel, dass Männchen umso wehrhafter im Vergleich zu den Weibchen sind, je größer die Konkurrenz um die Weibchen ist - je mehr Weibchen also ein erfolgreiches Männchen in der Regel für sich beanspruchen kann. Monogamie führt zu geringer Konkurrenz, was Owen Lovejoy dazu veranlasst in den kurzen Eckzähne der Homininenmännchen einen Hinweis darauf zu sehen, dass unsere Vorfahren bereits beim Übergang zum aufrechten Gang monogam waren. Eine alternative Erklärung zu Lovejoys vielfach kritisierter Paarbildungs-Hypothese bietet die ArmAT mit dem angenommenen, frühen Übergang der Waffencharakteristik von den Zähnen auf die Hände. Mit dem Verlust der Waffencharakteristik der Eckzähne steht nicht mehr zu erwarten, dass Konkurrenz um Weibchen sich in einem entsprechenden Sexualdimorphismus der Eckzähne niederschlägt. Vielmehr ist für Homininen damit zu rechnen, dass sich das Leistungsniveau im Umgang mit Waffen um so mehr zwischen Männchen und Weibchen unterscheidet, je ausgeprägter die Konkurrenz um Weibchen ist. Der ausgeprägte Sexualdimorphismus bei den Wurfleistungen des Homo sapiens verweist daher darauf, dass wir von Natur aus keine monogame Spezies sind.

“Darüber hinaus soll nach Kirschmann auch der Transport von Waffen ein Anlass für die Evolution der Bipedie gewesen sein. Dies aber würde bedeuten, dass die Waffen, wie beispielsweise Jagdspeere, zeitlich vor oder mit dem aufrechten Gang erworben wurden. Die ersten bekannten Jagdwaffen werden aber um über vier Millionen Jahre jünger datiert als der Erwerb des aufrechten Ganges” …

Für den Übergang zum aufrechten Gang habe ich lediglich Waffen vorausgesetzt, die auch von Schimpansen nachgewiesenermaßen genutzt werden - Stöcke und Steine. Gerade bei Stöcken besteht nicht die geringste Aussicht deren Verwendung vor 5 Millionen Jahren archeologisch nachzuweisen. Wo jedoch nicht mit Spuren zu rechnen ist, kann die Abwesenheit von Spuren nicht ernsthaft zum Gegenargument erhoben werden. Bei den Steinen sieht die Situation etwas anders aus, so dass hier tatsächlich Hoffnung besteht die These des frühen Waffentransports auf die Probe zu stellen. Bisher ist der archeologische Befund für den Zeithorizont, in den die Entwicklung des aufrechten Ganges fällt meines Wissens negativ. Da wichtige Funde aber schon immer dazu neigten, lange auf sich warten zu lassen, kann dieser Negativbefund kein hinreichender Grund sein die Hypothese des frühen Steintransports schon heute fallen zu lassen.
Für Wurfspeere besteht zu einem so frühen Zeitpunkt keinerlei Bedarf und die Jagd spielte in meinem Modell von 1999 ausdrücklich keine Rolle für den Velauf der menschlichen Evolution. Allerdings habe ich damals die Schöninger Speere bei meinen Überlegungen noch nicht berücksichtigt. Wie hoch die Rolle der Jagd innerhalb der ArmAT anzusetzen ist, ist jedoch eine untergeordnete Fragestellung. Heute würde ich es so formulieren: Anpassungen an das Jagen werden innerhalb der ArmAT nicht benötigt, könnten aber dennoch eine gewisse Rolle gespielt haben.

“Wenn überhaupt, erscheint es mir viel eher mit allen anderen Überlegungen vereinbar, dass bessere Transporte mit den Händen nach oder mit dem Erwerb aufrechter Fortbewegung möglich wurden.” …

Der evolutionäre Erwerb der aufrechten Fortbewegung war sicher ein Prozess, der einige Zeit in Anspruch nahm. Bis zu welchem Zeitpunkt innerhalb dieses Prozesses sollen unsere Vorfahren darauf verzichtet haben die erzielten Fortschritte beim aufrechten Gang auch für “bessere Transporte” zu nutzen, woraus sich wiederum Selektionsvoreile ergeben haben könnten, die den Prozess an sich vorantrieben?

“Jedenfalls scheinen die Anpassungen an die gute Wurffähigkeit von Menschen nicht - und vor allem nicht allein - ursächlich für den aufrechten Gang des Menschen zu sein” …

Das kann man so sehen      .   .   .     muß man aber nicht.

 

Ich habe diesen Artikel mit der Anmerkung begonnen, dass die Armed Ape Theory zur Klärung der Frage nach der Entwicklung des aufrechten Ganges nur vergleichsweise wenig beitragen kann. Diese Anmerkung stimmt jedoch nur, wenn man sie so auffasst, wie sie gemeint war - als Aussage innerhalb der Armed Ape Theory. Innerhalb der ArmAT geht es bei der Entwicklung des aufrechten Ganges nicht um unseren aufrechten Gang, sondern um denjenigen der Australopithecinen - deswegen auch die Anmerkung, dass dieser Prozess vor über 5 Millionen Jahren statt gefunden hat. Unser aufrechter Gang unterscheidet sich von demjenigen der Australpithecinen infolge von Veränderungen, die im Wesentlichen beim Übergang zum Homo erectus statt gefunden haben. Diese Veränderungen fallen damit zeitlich ins Kerngebiet der ArmAT. Zur Klärung der Frage nach diesen Veränderungen kann die ArmAT einen entscheidenden Beitrag leisten, denn dieser Prozess lässt sich anhand von Fossilen und archeologischen Überieferungen wesentlich besser überblicken, als die Entwicklung des aufrechten Ganges der Australopithecinen. Aus diesem Grund gehört dieser Prozess innerhalb der ArmAT aber auch nicht zum Themenbereich der Entwicklung des aufrechten Ganges, denn die körperlichen Umstellungen beim Übergang zum Homo erectus fanden der ArmAT zufolge überwiegend im Zuge der Optimierung der Wurfleistungen statt - der aufrechte Gang wurde dabei nur nebenbei etwas verbessert, aber nur im Rahmen dessen, was sich mit einem für das Werfen optimierten Körperbau vertrug.

Zum besseren Verständnis der unterschiedlichen Auffassugen möchte ich wieder auf ein Zitat von Prof. Niemitz zurückgreifen (”Das Geheimnis des aufrechten Ganges” S. 15):

“Im Gegensatz hierzu (zum vorher besprochenen aufrechten Gang des Tyrannosaurus) verfügen wir Menschen nur noch über ein kleines Überbleibsel der Schwanzwirbelsäule in Form unseres Steißbeins. Rumpf und Kopf werden also etwa senkrecht über dem Hüftgelenk getragen. Dies erlaubt und erfordert breitere Schultern und pendelnde Arme. Wie wichtig die Masse der Arme für schnelles Laufen beim Menschen ist, kann man leicht mit zwei Hinweisen demonstrieren. Denken Sie an den letzten 100-Meter-Endlauf, den sie im Fernsehen verfolgt haben, und an die eindrucksvoll muskulösen, also auch schweren Schultern und Arme jener besonders schnellen Sprinter. Oder erinnern Sie sich daran, wie Sie das letzte Mal mit einer schweren Einkaufstüte an einer Hand (die Sie an schnellen pendelnden Armbewegungen hinderte) versuchten, einen Bus oder eine U-Bahn schnell laufend noch zu erreichen, und wie die an der Hand pendelnde Stofftüte mit einer Flasche Wein und reifen Tomaten darin gefährlich eigenmächtig zu schwingen begann. Wir schwanzlosen, aufrechten Zweibeiner benötigen also im Gegensatz zu Tyrannosaurus für unseren Energie sparenden Gang - und mehr noch für gelegentlich schnellen Lauf - breite Schultern und im Verhältnis zum Rumpf recht lange, relativ schwere Arme.” …

Angesichts dieses Textes frage ich mich ernsthaft, ob mein Stil der Thematik angemessen ist. Vielleicht würde man ja die  ArmAT eher zur Kenntnis nehmen, wenn ich gelegentlich ein Paar Tomaten - vielleicht sogar superrote, überreife Tomaten erwähnen würde? Im Zusammenhang mit dem Werfen ließe sich das noch viel besser unterbringen, als im Zusammenhang mit dem aufrechten Gang! Zumindest die Aufmerksamkeit des Herrn Fischer (den Joschka meine ich) wäre mir damit schon mal gewiss. Und denken Sie an Ihren letzten Versuch eine Weinflasche mit in ein Fußballstadion zu nehmen! Wenn das Sicherheitspersonal nicht geschlafen hat, wurde Sie Ihnen weggenommen - aber bestimmt nicht, weil sie beim Laufen so gefährlich in der Tüte schwingt.
Ich denke jedoch, dass die ArmAT mehr zu bieten hat, als ein paar witzige Anmerkungen. Wenden wir uns also der Frage zu, warum Menschen - und insbesondere Männer - breite Schultern haben. Eine Erklärung wäre, dass wir sie enwickelt haben um beim Sprinten schneller zu sein - aber auch der beste Sprinter, den Sie sich aus Ihren Fernseh - Erinnerungen herausholen können ist in den Augen eines Löwen oder Wolfes nicht mehr als eine Witzfigur. Wir sind durch die breiten Schultern nicht schnell geworden - nur etwas weniger langsam. Wozu also der Aufwand? Löwen und Wölfe wüßten eine Antwort, für sie sind Menschen keine Witzfiguren, sie nehmen uns ernst - aber nicht, weil wir in der Lage sind mit ihnen um die Wette zu laufen, sondern weil wir so unheimliche und gefährliche Dinge tun können, wie z.B. Steine werfen.
Denken Sie ruhig an die letzten Leichtathletikmeisterschaften, die Sie gesehen haben - nicht nur die Sprinter hatten da breite, muskulöse Schultern. Auch die Speerwerfer hatten solche vorzuweisen. Und die Speerwerfer brauchten nicht nur das Gewicht der Schultermuskeln, sondern auch deren Kraft und den besonderen, von anderen Menschenaffen abweichenden Aufbau dieser Muskeln. Sie brauchten die schweren, muskulösen Arme.  Sie brauchten auch die Rumpfmuskulatur - und zwar in einem weit höheren Maße, als diese beim aufrechten Gang benötigt wird (Die unter natürlichen Bedingungen beim Werfen trainierte Rumpfmuskulatur stabilisiert nebenbei auch die Wirbelsäule und bäugt so Rückenschmerzen vor. Als zivilisierte Nichtwerfer bekommen wir daher leicht Probleme mit der Wirbelsäule, wenn die Lücke, die das Werfen hinterlassen hat nicht durch andere Tätigkeiten geschlosse wird. Spazieren gehen genügt da aber nicht. Ob gerade Speerwerfen hier die richtige Alternative ist, bezweifle ich jedoch. Würfe über maximale Entfernung waren in der Praxis wohl eher die Ausnahme und stellen extreme Anforderungen an den Körper. Infolge dessen neigen Speerwerfer dazu, ihren Rücken durch Überbelastung zu ruinieren, während die meisten von uns ihn durch Bewegungsmangel gefährden.) Werfer benötigen im Gegensatz zu Läufern auch den größten Muskel des Menschen, den großen Gesäßmuskel. Und sie brauchen die langen, schweren Beine, die tatsächlich ein Gegengewicht zu den muskulösen Schultern und Armen darstellen - allerdings geht es dabei nicht um die Beschleunigung der Beine, sondern um diejenige der Arme. Steinewerfer erreichen hohe Zielsicherheit dadurch, dass sie das Fingerspitzengefühl des Menschen nutzen und den Feingriff seiner Hand (Speerwerfer nutzen dagegen den Kraftgriff, Speere sind als optimierte, standardisierte Wurfgeschosse aber auch wesentlich leichter gezielt zu handhaben). Äußerlich mag die menschliche Hand Ähnlichkeit mit den Händen einiger anderer, wenig spezialisierter Primaten haben - spätestens ein Blick ins Gehirn zeigt jedoch, dass sie etwas ganz Besonderes ist. Man erkennt das am gewaltigen Umfang ihrer Repräsentation im primären sensorischen und motorischen Kortex (siehe Homunculus). 

homunculus
Während wir beim Laufen im tierischen Vergleich erbärmliche Leistungen vorzuweisen haben und uns mit einigermassen geringem Energieverbrauch beim Spazierengehen trösten, sind wir beim Werfen absolute Weltspitze, was eine hervorragend Grundlage darstellt, um eigene biologische Nischen zu erschliessen. Und noch etwas ist mir beim letzten Mal aufgefallen, als ich Spitzensportlern beim Sprint zugesehen habe. Die Unterschenkel machten auf mich den Eindruck ungewöhnlich lang und schlank zu sein - ich frage mich, bei welchen Körperproportionen und Geschwindigkeiten wir wohl in 3000 Jahren landen würden, wenn wir heute anfingen Sprinter zu züchten. Wir sind weit davon entfernt für das Laufen optimiert zu sein. Anstatt beim Laufen schweren Beinen schwere Schultern und Arme gegenüberzustellen, wäre es aus Sicht des optimierten aufrechten Ganges wesentlich sinnvoller die Unterschenkel zu verlängern und gleichzeitig deren Masse zu reduzieren. Dies würde die maximale Geschwindigkeit erhöhen, den Energieverbrauch senken und den Bedarf an Ausgleichsmasse am Oberkörper verringern.

Beim Übergang zum Homo erectus wurde nicht der aufrechte Gang optimiert, sondern die Wurfleistungen.

Gott, Gene und Gehirn (GGG) von Rüdiger Vaas und Michael Blume

26. März 2010

Rüdiger Vaas und Michael Blume geben in diesem Buch einen Überblick über sehr unterschiedliche Forschungsansätze mit denen sich Wissenschaftler aus unterschiedlichen Disziplinen der Frage annähern ob - und wenn, dann wie - Religiosität als evolviertes Phänomen verstanden werden kann. Die Autoren bemühen sich sichtlich darum die einzelnen theoretischen Vorstöße kritisch zu bewerten, stoßen dabei aber evolutionstheoretisch recht schnell an die altbekannten Grenzen, die mich schon vor 10 Jahren bewogen einen neuen evolutionären Wirkmechanismus für die Entwicklung der Religiosität zu postulieren – die memetische Verwandtenselektion. Dieser Mechanismus spielt bei den Erwägungen von Vaas und Blume keine Rolle und dieser Zustand dürfte symptomatisch für den Stand der wissenschaftlichen Diskussion sein. Mein Ansatz scheint also in den letzten 10 Jahren weder aufgegriffen worden, noch anderweitig ein zweites Mal entwickelt worden zu sein. Die aus meiner Sicht zu klärende Frage ist daher, ob ich in dieser Hinsicht ein früher Pionier, oder ein „Irrläufer“ bin. Hier hilft „GGG“ weiter, indem es umfangreiche Forschungsergebnisse präsentiert, die sich unter Verwendung meines Ansatzes wesentlich einfacher und widerspruchsfreier erklären lassen, als unter Rückgriff auf die altbekannten, im Buch präsentierten, evolutionären Mechanismen.

 

Die Autoren sind in der wissenschaftlichen Diskussion keine neutralen Beobachter, sondern treten als Vertreter eines bestimmten theoretischen Ansatzes an. Sie versuchen plausibel zu machen, dass bei der Entwicklung der Religiosität – im Gegensatz zur vorherrschenden (und auch meiner) Meinung – neben kulturellen Prozessen auch genetische Anpassungen eine Rolle gespielt haben könnten. Das Ergebnis dieser Bemühungen ist eine sehr interessante und lesenswerte Einführung in den Stand der Forschung und der wissenschaftlichen Diskussion, die gelegentlich unterbrochen wird durch wenig überzeugende Versuche für den eigenen Standpunkt innerhalb dieser Diskussion zu werben. In einigen Fällen schaffen es die Autoren ihre eigenen Argumente nach einer kritischen Überprüfung zu hinterfragen – in anderen gehen sie sich selber „auf den Leim“. Hier zwei Beispiele für die beiden Kategorien:

 

1)      An prominenter Stelle auf Seite 12 in der „Vorschau“ steht: „Religionen gab und gibt es in allen menschlichen Gesellschaften. Deshalb ist Religiosität wahrscheinlich eine menschliche Universalie. Das spricht dagegen sie als rein kulturelles Phänomen zu begreifen.“ Wenn Sie sich in meinem Blog ein wenig umsehen oder das ZdW lesen, werden Sie sehr schnell merken, wie wenig ich von diesem Argument halte. Aber die Autoren zwingen mich gar nicht auf der Suche nach Gegenargumenten mich selber zu zitieren. Am Ende des Buches, im „Versuch eines Fazits“ steht auf Seite 220-221 zu lesen „Universalität: Religiosität kommt zwar in allen bekannten Kulturen vor, aber nicht bei allen Menschen. Außerdem erscheint sie weniger universell, wenn sie enger definiert wird. Und sie könnte auch als ein Kulturprodukt angesehen werden, wie etwa die Schrift …“. Das nennt man dann wohl eine späte Erkenntnis. In der Tat verweist die Universalität des Merkmals lediglich darauf, dass die afrikanische Ursprungspopulation vor ca. 70 000 Jahren, von der wir alle abstammen, dieses Merkmal vermutlich auch schon aufwies (Bei der Schrift verhält es sich da anders, aber die Schrift ist ja auch keine Universalie im von Evolutionspsychologen üblicherweise genutzten Sinne, weil sie gerade Naturvölkern fremd war). Gleichzeitig legen archäologische Funde nahe, dass Religiosität, wie man sie heute überall antrifft vor 70 000 Jahren etwas ausgesprochen neues war. Es könnte sich also sehr wohl auch um eine kulturelle Neuerung gehandelt haben, die die Expansion unserer Vorfahren erst eingeleitet hat. Dieses Szenario habe ich im ZdW entworfen und dabei auf die gesellschaftliche Funktionalität der Religionen hingewiesen, für die wiederum Vaas und Blume in „GGG“ zahlreiche Belege anführen.

2)      Mit der „Gretchenfrage“ haben Vaas und Blume sich in eine Sackgasse manövriert, aus der sie selbst nicht wieder herausgefunden haben. Es geht dabei um die Frage, ob Religiosität nicht eventuell im Rahmen der sexuellen Selektion entwickelt worden sein könnte – im Prinzip also nach dem gleichen Mechanismus, wie der prächtige Pfauenschwanz. Eingangs wird zwar eher nebenbei bemerkt, dass beim Menschen die sexuelle Selektion beide Geschlechter betreffen könnte – mit der „Gretchenfrage“ wird jedoch nur die mögliche sexuelle Zuchtwahl durch die Frauen als Mechanismus tatsächlich weiter verfolgt. Dies geschieht offensichtlich in der Annahme, dass die bei Frauen festgestellte, ausgeprägtere Religiosität damit eine mögliche Erklärung findet. Der Blick auf den Pfauenschwanz belehrt uns aber eines Besseren. Die Vorliebe der Weibchen für prächtige Schwanzfedern züchtet dieses Merkmal nicht den Weibchen an, sondern den Männchen. Hätte die Gretchenfrage also in der Evolution der Religiosität tatsächlich eine zentrale Rolle gespielt, dann müssten die Männer stärker zur Religiosität neigen und nicht die Frauen. Vaas und Blume stützen also ihre These in diesem Fall auf Daten, die dieser These widersprechen.

 

Das sind aber eigentlich lediglich Nebenkriegsschauplätze. Evolutionstheoretisch entscheidend ist die Frage, wie man die festgestellte gesellschaftliche Funktionalität der Religiosität erklärt. Die Autoren verweisen wiederholt darauf, dass eine Selektion auf Gruppenebene diese Phänomene als Anpassungsleistungen erklären könnte. Gruppenselektion sei jedoch unter Evolutionstheoretikern umstritten.

Damit wird dieses für die Fragestellung zentrale Problem im Buch meines Erachtens viel zu oberflächlich behandelt. Genau hier gelangen wir nämlich an den Punkt, an dem es möglich wird zwischen biologischen und kulturellen Anpassungsleistungen zu unterscheiden.

Die Autoren gehen sogar so weit Gruppenselektion als prinzipiell denkbaren Mechanismus zu bezeichnen, der eine soziobiologische Erklärung der Religiosität ermöglichen könnte. Gerade die Soziobiologie beruht jedoch auf dem Ansatz, dass Selektion auf genetischer Ebene greift. Bereits die Selektion auf der Ebene von Individuen anzunehmen ist aus soziobiologischer Sicht falsch – erst durch die genetisch motivierte Erweiterung auf die „inclusive fitness“ wird aus der Annahme der Selektion auf der Ebene der Individuen eine aus soziobiologischer Sicht brauchbare Arbeitshypothese.

Aus soziobiologischer Sicht zulässig ist dagegen der Versuch die Entstehung der Religiosität über den reziproken Altruismus zu erklären, auf den im GGG dann auch detailliert eingegangen wird. Bei der Kooperation anderer Lebewesen spielt reziproker Altruismus eine untergeordnete Rolle, was auf das Trittbrettfahrer – Problem zurückgeführt wird. Entsprechend konzentrieren sich Befürworter des Reziproker Altruismus – Ansatzes darauf, in der kulturellen Evolution die Entwicklung von Mechanismen zu sehen, die die Reichweite des reziproken Altruismus erhöhen und so dafür sorgen, dass Menschen ungeachtet der ausgeprägten Kooperation in großen Gruppenverbänden genetisch auf ihre Kosten kommen. Das Problem bei diesem Ansatz ist, dass die kulturellen Maßnahmen gegen egoistische Trittbrettfahrer tatsächlich dafür sorgen müssten, dass alle Gruppenmitglieder auf der Ebene der eigenen inclusive fitness unter dem Strich von der Kooperation profitieren. Nur wenn diese Bedingung erfüllt wäre, könnte man das, was am menschlichen Verhalten nach Gruppenselektion aussieht auf den reziproken Altruismus zurückführen.

Die Autoren geben sich keine Mühe zu überprüfen, ob kulturelle Verhaltensregeln eher dem Schutz der Gruppeninteressen gegen Trittbrettfahrer dienen oder dem Schutz der Fortpflanzungsinteressen jedes einzelnen Gruppenmitglieds. Aber sie präsentieren Daten, die es ermöglichen sich darüber ein Urteil zu verschaffen. Sehr interessant fand ich hier das Beispiel der Nonnen, die den Reproduktionserfolg auf Gruppenebene offensichtlich deutlich steigern können – dafür aber mit persönlichem Fortpflanzungsverzicht bezahlen. Soziobiologisch sieht das doch sehr nach Ausbeutung der Nonnen durch die anderen Gruppenmitglieder aus.

 

Wenn ich jedoch Recht habe und mein Erklärungsansatz besser geeignet ist um Merkmale wie Religiosität evolutionstheoretisch zu erklären, dann drängt sich die Frage auf, was die Autoren daran gehindert hat den gleichen Ansatz zu entwickeln. Sie sind sich offensichtlich vollauf dessen bewusst, dass eine rein kulturelle Entstehung der Religiosität die gängige alternative Sichtweise darstellt. Sie wissen natürlich, dass der bewährteste Ansatz zur Erklärung von Kooperation im Tierreich die Verwandtenselektion ist. Immerhin konnte die Entwicklung steriler Kasten bei Insekten auf diesen Mechanismus zurückgeführt werden, die wiederum an die oben erwähnten Nonnen erinnern. Was liegt also näher, als der bewährten genetischen Verwandtenselektion im Tierreich beim Kulturwesen Mensch die memetische Verwandtenselektion gegenüberzustellen – also die Kooperation von „Brüdern und Schwestern im Geiste“?

GGG enthält einen möglichen Hinweis darauf, warum die Autoren diesen aus meiner Sicht nahe liegenden Gedanken nicht entwickelt haben. Er findet sich auf der Seite 148:

Nimmt man die Virus-Metapher ernst, darf nicht übersehen werden, dass man beim Zusammenspiel von Parasiten und Wirten unterscheidet, ob diese vorwiegend horizontal (zwischen verschiedenen Wirten) oder aber vertikal (von Eltern zu Kindern) weitergegeben werden. Sich horizontal ausbreitende Parasiten tendieren dazu, ihre Wirte zwecks maximaler Ausbreitung rücksichtslos auszubeuten und im Extremfall zu töten. Auch kurzlebige religiöse Neugründungen beschreiten zuweilen diesen Weg …

… Eindringlinge, die sich dagegen hauptsächlich vertikal ausbreiten, sind jedoch dann besonders erfolgreich, wenn sie den Reproduktions- und Überlebenserfolg ihrer Wirte steigern. Statt von Parasiten spricht man dann von Symbionten.

An dieser Stelle wurde ein aus meiner Sicht entscheidender Aspekt kultureller Evolution übersehen – die kulturelle Pseudospeziation. Diese sorgt dafür, dass kulturelle Überlieferungen auch auf dem Wege der horizontalen Ausbreitung schnell an ihre Grenzen stoßen (können). Unter den Bedingungen unter denen die Religiosität ursprünglich entwickelt worden ist waren die Gruppengrenzen der einzelnen, noch relativ kleinen Verbände natürliche Barrieren für die Ausbreitung kultureller Informationen. Noch vor wenigen Jahrzehnten gab es in manchen Regionen Neuguineas alle 30 km eine Sprachgrenze. Religiös geprägte Weltbilder haben sich ursprünglich – gestützt auf die horizontale Ausbreitung kultureller Informationen innerhalb der Gruppen - als Kulturgut ethnozentrischer Gruppenverbände entwickelt und waren evolutionär vor allem dann erfolgreich, wenn der Gruppenverband als ganzes erfolgreich war. Dazu gehörte natürlich auch die biologische Reproduktion der Gruppenmitglieder, dabei kam es jedoch nicht darauf an welche Gruppenmitglieder sich in welchem Ausmaß fortpflanzten. Echten Parasitismus konnten sich kulturelle Informationen unter solchen Umständen gar nicht leisten. Was beim menschlichen Verhalten nach Gruppenselektion aussieht lässt sich daher aus evolutionärer Sicht sehr gut mit memetischer Verwandtenselektion erklären, wenn man annimmt, dass die Mitglieder eines kulturellen Gruppenverbandes aufgrund der Möglichkeit zum horizontalen Austausch kultureller Informationen memetisch näher miteinander verwandt sind als genetisch. Das Alles ist jedoch (für mich) nicht neu. Ich habe das Szenario im ZdW detailliert entwickelt. Die im GGG präsentierten Beobachtungen fügen sich meines erachtens sehr gut in dieses Szenario ein. Es bleibt daher zu hoffen, dass mein Erklärungskonzept von Fachleuten doch noch zum Anlaß für weitere Forschungen und gezielte Falsifizierungsversuche genommen wird. Dies kann in diesem Spezialfall weitgehend unabhängig von der Werfer-Hypothese im engeren Sinn geschehen.

 

Nachtrag (02.04.10): Michael Blume hat inzwischen zumindestens auf die in dieser Besprechung aufgeworfene Kritik an der “Gretchenfrage” reagiert und in seinem Blog eingeräumt: “was die Gretchenfrage angeht, sehe ich übrigens inzwischen ganz ähnliche Schwierigkeiten wie Sie”. Meines erachtens sagt dieser Vorgang mehr über die Qualität eines Wissenschaftlers aus, als ein Professorentitel. Anstatt mich zu ignorieren oder zu diskreditieren hat Michael Blume sich entschieden zum Wohle des Erkenntnisfortschrittes eine Kröte zu schlucken. Ich werde daher trotz (oder gerade wegen) unserer unterschiedlichen Erklärungsansätze für die Entstehung von Religiosität seinen weiteren Werdegang mit Interesse verfolgen und nehme dies auch zum Anlaß seinen Blog hier zu verlinken:

 

 http://www.chronologs.de/chrono/blog/natur-des-glaubens

Armed Ape Saga I (Entwurf)

24. Januar 2010

Eine wissenschaftliche Theorie der Menschwerdung sollte viel mehr sein, als nur eine Erzählung, wie es gewesen sein könnte. Eine gute Theorie zu lesen ist daher recht anstrengend und für die meisten Außenstehenden schlicht “zu hoch”. Gut lesbare “Theorien” sind dagegen in der Regel aus wissenschaftlicher Sicht das Papier nicht wert, auf dem sie stehen. Die meisten Leser, die sich für die menschliche Evolution interessieren, lesen daher Schund. Und wer wie ich in erster Linie an der Wahrheit interessiert ist, steht dann schmollend in der Ecke, weil Autoren mit anderer Schwerpunktsetzung viel mehr zur Kenntnis genommen werden. Aber das muss ja kein Schicksal sein. Ich habe (unter Anderem) auch eine sehr interessante Geschichte zu erzählen und außer meinen möglicherweise zu beschränkten schriftstellerischen Fähigkeiten hindert mich niemand daran, dies auch zu tun.

Nachdem ich vor 10 Jahren eine Theorie veröffentlicht habe, die für sich in Anspruch nimmt wissenschaftlich begründet zu sein (”Das Zeitalter der Werfer”), kann ich mir erlauben hier einfach nur eine Geschichte zu erzählen - jeder Leser, der genaueres erfahren will, kann sich ja das Buch vornehmen. In der folgenden Erzählung wird nur eines von vielen Szenarien dargestellt, die im Rahmen der ArmAT denkbar sind. Trotzdem werde ich die verschiedenen Optionen nicht diskutieren, sondern in einem quasi biblischen Stil einfach “die Wahrheit” verkünden. Warum soll ich auch ausgerechnet denjenigen den Anspruch auf  ”die Wahrheit” überlassen, die Lügen verbreiten? (Wissenschaftlich widerlegte Vorstellungen gehören für mich nicht zum Glauben, sondern bestenfalls zum Aberglauben.) - Ich behalte mir aber vor, bei Gelegenheit eine andere, ebenso “wahre” Geschichte der Menschwerdung zu erzählen.  

KAPITEL I - DAS VORSPIEL

 Es war einmal 

im Jahre 5634821 vor Darwin, da lebten in Afrika Menschenaffen, die sowohl zu unseren Vorfahren werden sollten, als auch zu den Vorfahren unserer nächsten noch lebenden Verwandten, der Schimpansen. Diese Menschenaffen ähnelten im Körperbau und im Verhalten den heutigen Schimpansen. Besonders groß war die Ähnlichkeit dabei zu Pan troglodytes, auch gewöhnlicher Schimpanse genannt. Die Männchen verblieben auch als Erwachsene in ihrer Geburtsgruppe, waren daher nah miteinander verwandt und betrieben “Vetternwirtschaft”. Sie hielten zusammen, wenn es darum ging Fremde von ihrem Territorium und den darin lebenden Weibchen fern zu halten, oder selbst auf fremdes Territorium vorzudringen. Innerhalb der Gruppen entschied eine ausgeprägte Rangordnung darüber, welche Männchen sich mit welchen Weibchen paaren durften. Das Leben dieser Menschenaffen wurde durch allerlei kulturell überlieferte Verhaltensweisen erleichtert, die sich durchaus auch von Gruppe zu Gruppe unterschieden - das alles bewegte sich jedoch auf einem Niveau, das eben lediglich schimpansenähnlich war. Es sollten noch 5573362 Jahre ins Land gehen, bevor im Jahre 61459 vor Darwin in einer Nachkommenlinie dieser Menschenaffen in einer ostafrikanischen Küstensiedlung die Ehe erfunden wurde. Im Jahre 50 nach seiner Geburt veröffentlichte der britische Wissenschaftler Charles Darwin sein legendäres Werk über die Entstehung der Arten und noch einmal 12 Jahre später wies er darauf hin, dass er (und wir mit ihm) wahrscheinlich von afrikanischen Menschenaffen abstammen.

Diese Menschenaffen waren als intelligenteste Lebewesen ihrer Zeit sehr anpassungsfähig und kamen sowohl in geschlossenen Urwäldern als auch in offenerem Gelände bis hin zu Savannen vor. In offenerem Gelände gab es für große Säugetiere - insbesondere für Grasfresser - mehr Futter. Da diese Tiere ihrerseits gutes Futter für Fleischfresser abgaben, gab es in offenerem Gelände  auch mehr Raubtiere, die unseren Vorfahren gefährlich werden konnten. Gleichzeitig dauerte es in der Regel länger, bis man sich auf dem nächsten Baum in Sicherheit bringen konnte. Da traf es sich gut, dass diese Menschenaffen sich nicht nur mit ihren Zähnen, sondern auch mit Stöcken und Steinen zu verteidigen wussten - auch darin ähnelten sie den gewöhnlichen Schimpansen. Und ebenso wie bei gewöhnlichen Schimpansen waren diejenigen unter unseren gemeinsamen Vorfahren am geübtesten und geschicktesten im Umgang mit solchen Waffen, die in den offensten Lebensräumen zuhause waren. Das galt insbesondere für die Männchen, bei denen der Umgang mit Waffen auch eine Rolle beim Ausfechten der Rangordnung spielte. Die Rangordnung spielte wiederum eine zentrale Rolle dabei, wie viele Nachkommen ein Männchen hinterließ. Je offener die Lebensräume waren, desto mehr tendierten ihre Bewohner dazu, erbliche Merkmale anzureichern, die sie in die Lage versetzten besser mit Waffen umzugehen. Es kursierten sogar Gerüchte, dass es bei verwandten Populationen an manchen Orten rund um den afrikanischen Urwaldgürtel bereits zur Entwicklung des aufrechten Ganges gekommen sei, der die Fähigkeit Waffen zu nutzen deutlich verbesserte - aber das betraf unsere Vorfahren noch nicht. Außerdem konnten sie mit derartigen Gerüchten noch gar nichts anfangen, denn sie konnten noch nicht sprechen. Noch überwogen im Siedlungsgebiet unserer Vorfahren geschlossene Wälder und der Austausch von Genen sorgte dafür, dass die Entwicklung ausgesprochener Savannen-Typen nicht voran kam.

Doch die Zeit verging und das Klima änderte sich. In Ostafrika nahm der Anteil offener Lebensräume in den folgenden Jahrhunderttausenden allmählich zu und die lokale Menschenaffen-Population wurde infolge dessen immer wehrhafter. Bald kehrten sich in dieser Region die Verhältnisse um. Die Savannentauglichen Typen wurden zum Standard, der aufrechte Gang zur Norm und der lokale genetische Austausch eliminierte nun die konservativen Typen. Diesmal waren es jedoch unsere Vorfahren, die diese Entwicklung  durchmachten und für die  Vorfahren der Schimpansen (einem anderen Teil der Nachkommen unserer gemeinsamen Vorfahren) zu einem unausgesprochenen und ungehörten Gerücht wurden.

Der aufrechte Gang verringerte zwar die Fluchtchancen in Gefahrensituationen, verbesserte dafür aber die Chance einer erfolgreichen Verteidigung unter Einsatz von Waffen. In offenem Gelände, das unsere Vorfahren nun immer häufiger überqueren mussten war die Verteidigungsoption erfolgreicher (die teilweise in Gruppen kooperierenden Raubtiere dieser Gegend waren daran angepasst auf die Flucht spezialisierte Tiere zu jagen, die schneller waren, als irgendein Affe). Unsere Vorfahren entwickelten einen regelrechten Instinkt, die offene Savanne nicht unbewaffnet zu betreten. In Gefahrensituation fühlten sie ein Bedürfnis etwas in der Hand zu halten, womit sie sich verteidigen konnten. In der Regel waren dies in den nächsten 3 Millionen Jahren Stöcke. Bei Begegnungen mit Raubtieren wurden darüber hinaus vor Ort Steine aufgelesen, mit denen die Gegner beworfen und in der Regel vertrieben werden konnten, noch bevor es zum gefährlicheren Nahkampf mit den Stöcken kam. Unsere Vorfahren waren bald so leistungsfähig im Umgang mit handgeführten Waffen, dass sie keine langen Eckzähne mehr brauchten. Während ihre Hände sich an den Umgang mit Stöcken und Steinen anpassten, passten sich die Zähne an die Ernährung in der Savanne an, ohne dass dabei - wie bei den Pavianen - Rücksicht auf deren Brauchbarkeit als Waffen genommen werden mußte. Noch bevor 2,6 Millionen Jahre vor Darwin der nächste Entwicklungsschritt begann, hatten unsere Vorfahren den für uns Menschen typischen Feingriff als Anpassung ans Werfen entwickelt und den zweiten typisch menschlichen Griff - den sogenannten Kraftgriff - als Anpassung an den Gebrauch von Stöcken als Waffen.

KAPITEL II - DER SÜNDENFALL

Vor 2,6 Millionen Jahren waren unsere Vorfahren bei den Raubtieren hinreichend als gefährlich bekannt, um zumindest am Tage gemieden zu werden. Im Dunkel der Nächte jedoch konnten sie leichter zur Beute werden. Sie schliefen zur Sicherheit immer noch auf Bäumen, waren da aber insbesondere vor den Leoparden nicht ganz sicher. Das Verhältnis zwischen unseren Vorfahren (damals hießen sie Australopithecinen) und den Leoparden war daher besonders gespannt. Verlusten durch Leoparden in der Nacht standen Angriffe auf Leoparden und deren Nachwuchs - oder auch deren Beute - am Tage gegenüber. Am Tage konnten die Australopithecinen nämlich koordiniert vorgehen und ihre Waffen effektiv einsetzen. Und vor den hervorragend kletternden Australopithecinen - im Gegensatz zu Löwen - konnten Leoparden weder sich noch ihre Beute auf Bäumen in Sicherheit bringen. Die Möglichkeit, Raubtieren deren Beute abzujagen gewann vor 2,6 Millionen Jahren in Ostafrika infolge klimatischer Änderungen an Bedeutung. Das Klima wurde noch trockener, die Jahreszeiten ausgeprägter und die Ernährung in der Trockenzeit immer schwieriger. Unsere Vorfahren setzten unter diesen Umständen auf die Aas - Karte. Sie nutzten ihre Fähigkeiten im Umgang mit Waffen nun verstärkt zum Nahrungserwerb, indem sie Raubtiere, denen sie sich überlegen fühlten, von deren Rissen vertrieben. Da ein derartiger Angriff gründlicher vorbereitet werden konnte als die Verteidigung im Falle eines überraschenden Angriffs durch Raubtiere, gewannen geworfene Steine nun deutlich an Bedeutung. Die Raubtiere, die sich bei der Beute aufhielten wurden aus der Entfernung so lange bombardiert, bis sie das Weite suchten. Unsere Vorfahren dagegen spezialisierten sich zunehmend auf das Werfen von Steinen und wurden so zu dem, was Wissenschaftler heute unter Homo habilis verstehen. Sie entdeckten sehr schnell, dass sich scharfe Steinabschläge gut zum Zerlegen der erbeuteten Tiere eigneten und gewöhnten sich bald an, ihre mitgebrachten Wurfsteine auch als Material und Werkzeug zur Herstellung von Abschlägen einzusetzen. Die besten, rundesten Wurfsteine wurden dabei als Hammer genutzt, Wurfsteine zweiter Wahl als Rohmaterial. Benutzt man einen runden Stein sehr häufig als Hammerstein, dann nimmt er eine ideale Kugelgestalt an. Manche Wurfsteine unserer Vorfahren waren so beliebt, dass sie tatsächlich so lange nur als Hammersteine genutzt wurden, bis perfekte Kugeln daraus wurden.

Die Herstellung von Steinwerkzeugen war für den Homo habilis aber nur eine neue Tätigkeit, die auch schon vorher im Bereich dessen gelegen hatte, was unsere Vorfahren leisten konnten. Angepasst hat sich Homo habilis nicht an die Werkzeugherstellung, sondern an das Werfen und das Verjagen von Raubtieren von deren Beute. Dies hatte Folgen:

Die kurze Habilinenphase der menschlichen Evolution war eine Übergangsphase, in der es nicht gelang sich in einer stabilen Nische einzunisten. Anpassungen an das Werfen ermöglichten einen Aufstieg innerhalb der Rangordnung der Raubtiere, die am Aas ausgefochten wird. Es kam zu einer zunehmenden Meidung unserer Vorfahren seitens der Raubtiere. Damit kamen unsere Vorfahren auch immer weniger als potentielle Beute in Frage. Mehr Kinder konnten so aufgezogen werden und erhöhten dann als Erwachsene den Konkurrenzdruck um die limitierten Ressourcen. Revierkonflikte gewannen infolge dessen immer mehr an Bedeutung und bei diesen Konflikten spielten nun geworfene Steine eine Schlüsselrolle.  Innerhalb von einer halben Jahrmillion wurden die Wurfleistungen so weit verbessert, dass das Vertreiben von Raubtieren vom Aas kaum noch zur Selektion beitrug - selektiert wurden unsere Vorfahren nun vor allem in Auseinandersetzungen mit Ihresgleichen. Am Ende der Habilinenphase vor 2 Millionen Jahren hatte der Satz Gültigkeit erlangt, dass der Mensch des Menschen Wolf ist - er ist das zentale Leitmotiv der Menschwerdung. Vor diesem Hintergrund sind die gravierenden Umstellungen beim Übergang vom Homo Habilis zum Homo erectus zu verstehen.

KAPITEL III - DER MENSCH NIMMT GESTALT AN

Der geringe Raubtierdruck und die hohe Bedeutung geworfener Steine sind die Randbedingungen, die dafür gesorgt haben, dass der Mensch ein ganz besonderer Affe ist. Wer schon einmal ein Mikrophon an den dazu gehörigen Lautsprecher gehalten hat, hat eine Vorstellung davon, was eine Instabilität infolge einer Rückkopplung ist. Auch die Entwicklung des menschlichen Gehirnvolumens “riecht” förmlich nach einer Instabilität und verlangt zur Erklärung nach einem Rückkopplungsprozeß. Der in der Habilinen-Phase verringerte Raubtierdruck setzte genau diesen Prozeß direkter Rückkopplung in Gang. Unsere Vorfahren hatten “ökologische Dominanz” erreicht. Der Preis dafür war, daß von da an in erster Linie der direkte Wettbewerb mit Ihresgleichen über den Fortpflanzungserfolg unserer Vorfahren entschied - in diesem Sinne erschuf der Mensch tatsächlich sich selbst. Im Mittelpunkt standen dabei die Wurfleistungen - Der Mensch wurde zum spezialisierten Werfer und infolge dessen zu einem ausgesprochenen Distanztier. Beim Übergang zum Homo erectus fanden unter anderem folgende Anpassungen statt:

Anpassungen an das Werfen (vor allem bei Männern): Breite Schultern, abgeflachte Brust, lange Beine mit schweren Unterschenkeln (diese gingen massiv zu Lasten des Kletterns auf Bäume), großer Gesäßmuskel, Fähigkeit zur Rotation des Oberkörpers um die Längsachse, niedrigerer Körperschwerpunkt, insgesamt graziler Körperbau, eine Schultermuskulatur die einem Auskugeln des Armes beim Werfen entgegenwirkt, beschleunigte Leitung von Nervenimpulsen zu den Händen, verbesserte räumliche Wahrnehmung, verbesserte Handsensorik, verbesserte Analyse der physikalischen Eigenschaften in der Hand gehaltener Steine (Gewicht, Trägheitsachsen, Trägheitsmomente -> optimale Positionierung für einen kontrollierten Wurf), verbesserte Planung komplexer, ballistischer Bewegungen (Als “ballistisch” hat William Calvin Bewegungen bezeichnet, die so schnell statt finden, daß in ihrem Verlauf keine Korrekturen durch Rückkopplungsprozesse statt finden können - dies stellt extreme Anforderungen an die Vorausplanung.), Entwicklung eines angeborenen Programms zum Erlernen des Werfens, Entwicklung einer Phase der Wachstumsverzögerung (diese stellte sicher, dass Kinder sich lange genug im Werfen üben konnten, ohne von den Erwachsenen zu ernst genommen und gestört zu werden). Deutliches Gehirnwachstum infolge der oben beschriebenen Anpassungsleistungen. 

Anpassungen an das Beworfenwerden: Robustes Skelett mit extra dicken Langknochen, verdoppelte Dicke der Schädelknochen, abgeflachte, längliche Schädelform (mit funktional begründeter Ähnlichkeit zur Geometrie von Kampfpanzer-Türmen), robuster Kiefer, sehr robuste Überaugenbögen (die sich im Gegensatz zu Menschenaffen nicht mit Kaudrücken erklären lassen und beim Homo habilis bereits wesentlich “fortschrittlicher” waren), instinktive Abwehr- und Ausweichreaktionen auf Wurfbewegungen, verbesserte Fähigkeiten zur Voraussage der Handlungen Anderer (Spiegelneurone), Pflege verletzter Gruppenmitglieder.

Anpassungen an das Leben mit Werfern (Mensch als Distanztier): Verbesserung distanztauglicher Formen sozialer Interaktion -> Mimik, Gestik, Sprachentwicklung, weiße Augäpfel, deutlich unterscheidbare Körperumrisse bei Männern und Frauen (insbesondere im Falle junger Frauen), gestiegene Bedeutung visueller Wahrnehmung bei der Partnerwahl bei verringerter Bedeutung des Geruchssinns. Infolge der Sprachentwicklung ein weiterer Beitrag zum Gehirnwachstum.

Den sozialen Hintergrund für all diese Anpassungsleistungen bildete eine nach wie vor multimaskuline, schimpansenähnliche Gruppenstruktur. Unsere Vorfahren waren also nicht monogam, als sie den typisch menschlichen Körperbau und im gleichen Kontext das menschliche Gehirn entwickelten. Sie lebten in Gruppen, die kaum einmal mehr als 30 Individuen zählten. Den harten Kern dieser Gruppen bildeten die untereinander eng verwandten Männer. Diese Gruppen waren zu klein, um sich auf Dauer ohne genetischen Austausch mit Nachbargruppen fortpflanzen zu können. Im Gegensatz zu den Männern wechselten daher junge Frauen gelegentlich von ihrer Geburtsgruppe zu einer Nachbargruppe und verbesserten so die genetische Qualität ihres Nachwuchses. Dieser Gruppenwechsel wurde allerdings infolge der Entwicklung einer Fernwaffe, der Intensivierung der Revierkonflikte und der Entwicklung der Sprachfähigkeit im Laufe der Zeit immer anspruchsvoller und gefährlicher. Dies zog eine lange Reihe von Folgeanpassungen nach sich. Durch den gelegentlichen Gruppenwechsel junger Frauen blieben benachbarte Gruppen zwar genetisch und prinzipiell auch kulturell miteinander verwandt. Im Falle der kulturellen Evolution sorgte die hohe Entwicklungsdynamik jedoch dafür, daß es zu beachtlichen Unterschieden sowohl in der Sprache als auch in den klturellen Überlieferungen benachbarter Gruppen kam. Diese Unterschiede machten den Gruppenwechsel für junge Frauen mit der Zeit immer schwerer und die Integration in eine neue Gruppe wurde zu einem ausgesprochen langwierigen, riskanten und schwierigenVorgang. Damit dennoch junge Fauen in ausreichender Zahl die Gruppen wechselten, um den Inzest in einem erträglichen Rahmen zu halten, entwickelte sich bei Menschen die romantische Liebe. Junge Frauen neigten zunehmend dazu eine intensive emotionale Bindung zu einem Mann aufzubauen, mit dem sie nicht aufgewachsen waren und der den Anschein erweckte, als wäre er in der Lage und auch willens ihr bei der Integration in seine Gruppe den benötigten Schutz zu gewähren. Männer neigten zunehmend dazu, sich in junge, fremde Frauen zu verlieben und ihnen so lange treu zu bleiben, bis sie in der neuen Gruppe als integriert gelten konnten. Dies waren keine Anpassungen an die Ehe, sondern an eine “Lebensabschnittsbeziehung”. Eine junge Frau, die sich einen Partner fürs Leben sucht, müßte vor allem auf das Alter ihres Gefährten achten, damit er nicht ausgerechnet dann stirbt, wenn sie ihn bei der Kinderaufzucht am meisten braucht. Statt einer Vorliebe für der Pubertät kaum entwachsene Knaben, entwickelten unsere Vorfahrerinnen aber eine Vorliebe für gestandene Männer, die noch gesund genug erschienen, um in den nächsten paar Jahren von Nutzen zu sein (Bei Shakespeares Julia ist da was schief gelaufen - daher auch das tragische Ende der Geschichte. Sie wurde ausselektiert und hat ihre fitnessmindernde Vorliebe für grüne Jungs nicht weitergegeben.). Die Ernährung der Kinder spielte dabei gar keine Rolle - dafür war nach wie vor ausschließlich die Mutter zuständig. Was die junge Frau von ihrem Lebensabschnitsgefährten brauchte, war Schutz in der für sie neuen Gruppe für die Dauer des Integrationsprozesses. Beim Wechsel in eine neue Gruppe bekam es eine junge Frau nämlich nicht bloß mit einer “bösen Schwiegermutter” zu tun - sämtliche etablierte Frauen der neuen Gruppe verhielten sich nach dem gleichen Schema um “ihre” Ressourcen vor der “Neuen” zu schützen.

Fortsetzung folgt

Armed Ape Theory und Sprachentwicklung

19. Januar 2010

Bei der fünfjährigen Arbeit am “Zeitalter der Werfer” (ZdW), dem nun 10 Jahre alten, nach wie vor grundlegenden Buch zur Armed Ape Theory, habe ich ein Detail übersehen. Dies ist mir sehr peinlich, denn dieses Detail betrifft ein zentrales Rätsel der Menschwerdung: Warum entwickelten unsere Vorfahren die Sprachfähigkeit? Obwohl ich ein naheliegendes Erkärungsmuster für zahlreiche andere, typisch menschliche Eigenschaften genutzt habe, kam es mir nicht in den Sinn es auch auf die “heilige Kuh” Sprachfähigkeit anzuwenden. Vielleicht hatte ich unterbewußt Angst vor dem “Vorwurf” alles, aber auch wirklich alles in der menschlichen Evolution auf das Werfen zurückführen zu wollen. Mein Modell schien auch ohne eine überzeugende Erklärung für die Sprachentwicklung bereits “zu schön um wahr zu sein”.

Es ist durchaus nicht so, dass ich mich gar nicht mit der Entwicklung der Sprachfähigkeit befasst habe. William Calvin hatte bereits darauf hingewiesen, dass Anpassungen des Gehirns an das Werfen die Entwicklung der Sprachfähigeit erleichtert haben könnten. Ihm folgend habe auch ich mich auf ähnliche Überlegungen eingelassen, einen triftigen Grund, warum es zur Sprachentwicklung gekommen ist, habe ich dabei aber nicht geliefert. Einigermaßen sicher war ich mir nur hinsichtlich der Aussage, dass es sich bei der menschlichen Sprachfähigkeit nicht um eine Anpassung an die Kulturfähigkeit gehandelt haben kann. Diese traditionell favorisierte These passt einfach nicht zum archeologischen und paläontologischen Befund.

Wie sieht nun das Erklärungsmuster aus, das bei mir heute im Verdacht steht auch das Rätsel um den Beginn der Sprachentwicklung lösen zu können? Ich habe im ZdW eine ganze Reihe menschlicher Eigenschaften als Folgeanpassungen interpretiert. Anpassungen an das Leben als Werfer unter Werfern. Im Gegensatz zu den zahlreichen Anpassungen an das Werfen selbst, ging es bei diesen Folgeanpassungen nicht um die Verbesserung des Werfens an sich, sondern um Lösungen für Probleme, die die Verfügbarkeit einer Fernwaffe mit sich brachte. Hier einige Beispiele:

- Die Körperumrisse von Männern und Frauen sind bei Menschen deutlich unterscheidbar, wobei die weiblichen Körperproportionen gerade in der Lebensspanne zwischen Pubertät und erster Schwangerschaft als am attraktivsten empfunden werden. In der ArmAT entspricht die natürliche Gruppenorganisation des Menschen derjenigen der Schimpansen. Das heißt, dass junge Frauen Kontakt mit fremden Männern aus verfeindeten Nachbargruppen aufnehmen mußten (das betreffende Kapitel aus dem ZdW habe ich hier im Blog im Beitrag vom 01.09.2009 eingestellt). Bei der ersten Kontaktaufnahme mit einem potentiell gefährlichen Mann aus einer verfeindeten Nachbargruppe, der über eine Fernwaffe verfügte, war es wichtig, bereits über eine Entfernung, die die Reichweite dieser Fernwaffe überschritt als Frau und potentielle Sexualpartnerin wahrgenommen zu werden. Hilfreich war dabei, dass gerade die Körperproportionen, in denen junge Frauen am deutlichsten von Männern abweichen (Brüste, schmale Schultern), Höchstleistungen beim Werfen im Wege stehen. Gleichzeitig weckt die gut erkennbare, schmale Taille bereits auf große Entfernung die Hoffnung, dass diese junge Frau noch nicht schwanger ist.

- Das Weinen dient beim Menschen als Beschwichtigungs- und Unterwerfungsgeste und hat damit eine ähnliche Funktion wie das Präsentieren der Halsschlagader bei Wölfen. Wichtig bei derartigen Gesten ist der Ausschluß einer möglichen Täuschung dadurch, dass man sich wehrlos macht und dem anderen tatsächlich “auf Gedeih und Verderb” ausliefert. Als Werfer sind Menschen auf die Nutzung visuell gesteuerter Fernwaffen spezialisiert. Tränen behindern die Wahrnehmung und verringern damit die Gefährlichkeit eines Werfers. Gleichzeitig erschweren die Zuckungen beim Schluchzen die Koordination der hochkomplizierten Präzisionsbewegung, um die es sich beim gezielten Wurf handelt. Ein schluchzender Mensch ist ein schlechter Werfer und daher relativ harmlos.

Die Spezialisierung auf die Nutzung einer Fernwaffe machte den Menschen zu einem Distanztier. Andererseits waren unsere Vorfahren bereits vor den umfangreichen Anpassungen an das Werfen, die vor ca. 2 Millionen Jahren einsetzten, ausgesprochen soziale Primaten, deren Überleben vom Zusammenhalt der Gruppe abhing. Bei Primaten setzen wichtige soziale Interaktionen körperliche Nähe voraus. Die wichtigste Handlung zur Pflege sozialer Kontakte unter Primaten ist die soziale Körperpflege - das “Groomen”. Die körperliche Nähe für derartige Handlungen nach einer Auseinandersetzung wieder her zu stellen konnte unter Werfern zu einem echten Problem werden. Ein soziales Tier, das über eine Fernwaffe verfügt, braucht zum Ausgleich zur Fähigkeit über Distanz zu kämpfen die Fähigkeit zu sozialen Interaktionen über Distanz, die geeignet sind, Bindungen zu stärken. Es ist peinlich, aber wahr, dass mir die Bedeutung dieses Sachverhalts erst bewußt wurde, als ich lange nach der Veröffentlichung des ZdW las, dass ein Wissenschaftler (Robin Dunbar) vor dem Hintergrund einer anderen Hypothese zur Sprachentwicklung das Sprechen als “Groomen über Distanz” bezeichnete. Sprache eignet sich unter anderem sehr gut dazu, zu Menschen, denen man  im Moment lieber nicht zu nahe kommen möchte, einen Kontakt her zu stellen und eine allmähliche Annäherung einzuleiten.  Man kann dies sogar aus einer Deckung heraus tun - ein Szenario, das ironischerweise in Filmen ausgesprochen beliebt ist. Wie würde z.B. ein Filmkomödien-Klischee-Italiener versuchen, seine Geschirr werfende Filmkomödien-Klischee-Ehefrau zu beschwichtigen?

Im gleichen Kontext sind beim Menschen wahrscheinlich Leistungssteigerungen in den Bereichen Mimik und Gestik und gleichzeitige Leistungseinbußen beim Geruchssinn zu sehen - Der Mensch ist ein Distanztier, bei dem distanztaugliche Mechanismen bei der Wahrnehmung und der sozialen Interaktion deutlich an Bedeutung gewonnen haben, zu Lasten von Mechanismen, die nur über kurze Entfernungen funktionieren. Bei der Partnerwahl haben z.B. optische Reize deutlich an Bedeutung gewonnen und der Geruch verloren. Auch die weißen Augäpfel passen hier ins Bild, weil Augen bei sozialen Interaktionen von Primaten eine wichtige Rolle spielen und die wißen Augäpfel die Blickrichtung des Sozialpartners über große Distanzen wahrnehmbar machen.

Unter Sprachforschern galt lange Zeit die Entstehung der Grammatik als das große Rätsel im Kontext der Entwicklung der Sprache. Dies hat sich deutlich entspannt, seit man in Computersimulationen herausgefunden hat, dass zwei anfangs über keinen gemeinsamen Code verfügende Interaktionspartner, die sich tatsächlich um eine Kommunikation bemühen, sehr schnell dazu kommen gemeinsame Kommunikationsregeln zu entwickeln. Ein sehr interessanter Prozess der kulturellen Evolution, bei dem funktionale Komplexität überwiegend in den schöpferischen Gehirnen zweier Interaktionspartner entsteht. Eine einmal entstandene Grammatik konnte ihrerseits zu einem biologischen Selektionskriterium werden - 2 Millionen Jahre praktizierter Sprache mit hoher Bedeutung für das Überleben in der Gruppe einerseits und der Gruppe als Ganzes andererseits genügen sicher zur Entwicklung eines Sprachinstinkts und evolvierter Mechanismen zum Erlernen der Sprache. Das eigentliche Rätsel im Bereich der Sprachentwicklung ist heute die Frage nach der Motivation am Beginn dieses Prozesses - Schimpansen könnten mit den Hilfsmitteln, die ihnen von Natur aus ohnehin zur Verfügung stehen wesentlich mehr kommunizieren, haben dafür aber anscheinend keinerlei Bedarf. Soziale Primaten fühlen sich jedoch unwohl und bedroht, wenn sie von der Gruppe abgeschnitten werden. Und wenn ich mir einen Homininen vorstelle, der vor der Aufgabe steht nach einem Streit mit dem nun zurecht verärgerten Alpha seinen Platz in der Gruppe wieder einzunehmen, dann denke ich, dass es in diesem Zusammenhang nicht an der Motivation fehlte, jeden Versuch zur Kommunikation über Entfernung auszuprobieren. Natürlich ist dies nur ein herausgegriffenes, markantes Beispiel dafür, dass Distanzwaffen die Entwicklung Distanztauglicher sozialer Interaktionen nach sich ziehen sollten.

Die Interpretation der Sprache als direkte Folgeanpassung an das Werfen führt zu zeitlichen Verschiebungen innerhalb meines Modells der menschlichen Evolution. Im ZdW habe ich angenommen, dass Werfer-Anpassungen den Anpassungen an die Sprachfähigkeit vorausgegangen sind und vermutet, dass Werfer-Anpassungen für sich genügen um die Expansion des Gehirnvolumens beim Übergang zum Homo erectus zu erklären. Heute gehe ich davon aus, dass Leistungssteigerungen beim Werfen unverzüglich zur Selektion verbesserter Sprachfähigkeit führen mussten. Eine zeitliche Trennung beider Prozesse ergibt für mich heute wenig Sinn. Die Enwicklung der Sprachfähigkeit setzte also spätestens vor 2 Millionen Jahren ein und könnte daher einen Beitrag zur Vergrößerung des Gehirns beim Übergang zum Homo erectus geleistet haben.

“Führen und Folgen” von Mark van Vugt

23. November 2009

Bitte nicht wundern, dass ich mir mal wieder einen aktuellen Artikel aus dem Spektrum der Wissenschaft vornehme - ich habe diese Zeitschrift einfach seit vielen Jahren abonniert und verzichte bei Themen, die mich im Augenblick nur am Rande interessieren einfach aus Bequemlichkeit auf weitergehende Recherchen. Gelegentlich ärgert mich aber auch einfach der Unsinn, der in “meiner” Zeitschrift verbreitet wird - so wie in diesem Fall.

Mal wieder haben wir es hier mit einem Autor zu tun, der uns zeigen will, wie man ein Phänomen unter Nutzung der evolutionstheoretischen Perspektive besser verstehen kann. Dumm nur, dass diese Perspektive bei ihm - in schlechter Evolutionspsychologischer Tradition - einiges zu wünschen übrig läßt.

Während in dem unmittelbar vorangehenden Artikel im gleichen Heft die Autoren darüber nachdenken, welche Innovationen beim Übergang zum modernen Verhalten vor 40 bis 70 Tausend Jahren den sozialen Zusammenhang gefördert haben könnten, setzt van Vugt ganz selbstverständlich voraus, dass der gesellschaftliche Aufbau im Zeitraum zwischen 2.5 Millionen und 13 Tausend Jahren vor unserer Zeit im Prinzip unverändert blieb. Infolge dessen setzt er egalitäre Gesellschaften als Standard-Gesellschaftstyp für den gesamten aus Sicht der Gehirnentwicklung interessanten Evolutionszeitraum einfach voraus. Dabei ist dies nichts weiter als eine Hypothese, die durch keinerlei Daten gestützt wird, denn vergleichende Untersuchungen an Naturvölkern erlauben maximal eine Rekonstruktion des Verhaltens bis zur Ursprungspopulation unserer Vorfahren vor ca. 60 - 70 Tausend Jahren. Und die archeologischen Belege sprechen - wie der Hinweis auf den vorangegangenen Artikel bereits nahelegt - längst gegen diese Hypothese.

Darüber hinaus sieht sich der Autor auch noch genötigt Gruppenselektion für den Verlauf der organischen Evolution beim Menschen zu bemühen, was seine Schlussfolgerungen gerade aus evolutionstheoretischer Sicht noch fragwürdiger macht.

Bei den egalitären Gesellschaften sorgen zahlreiche kulturelle Maßnahmen dafür, dass das angeborene Macht- und Dominanzstreben ranghoher Männer die Gesellschaft nicht destabilisiert. Der Widerspruch zwischen angeborenen Neigungen und kulturell zulässigen Optionen ist bereits deutlich ausgeprägt und weist darauf hin, dass dies eben nicht die soziale Organisationsform ist, an die wir über Jahrmillionen hinweg biologisch angepasst worden sind.

Kulturelle Revolution und die Eroberung der Welt

23. November 2009

Neue Funde an der südostafrikanischen Küste legen den Gedanken nahe, daß der Übergang zum modernen Verhalten des modernen Menschen sich etwas anders abgespielt hat, als ich dies im “Zeitalter der Werfer” vor knapp 10 Jahren vermutete. Grundsätzlich bin ich der Wahrheit damals wohl schon recht nahe gekommen - im Detail scheinen jedoch einige Korrekturen angebracht. Aber schauen wir uns doch erst einmal an, was ich damals zu Papier gebracht habe - folgendes Kapitel stammt aus dem ZdW:

6.6 Natürliche Beschränkung der Gruppengröße und deren kulturelle Überwindung

Freilebende Schimpansenmännchen kooperieren nicht nur als Gruppenverband gegen die Mitglieder anderer Gruppen, sie bilden auch innerhalb der Gruppen Interessengemeinschaften, die bevorzugt aus den Söhnen der gleichen Mutter bestehen. Mit abnehmendem Verwandtschaftsgrad sollte ja auch im Prinzip Kooperation zunehmend durch Konkurrenz ersetzt werden, denn der Erfolg des genetischen Materials kooperierender Männchen basiert eben auf dem Ausschluß weniger eng verwandter Männchen vom Zugang zu den Reproduktionsressourcen. Wird die Gruppe zu groß, so findet kein relevanter Ausschluß mehr statt. Deswegen gibt es für die Gruppengröße bei Schimpansen eine Stabilitätsgrenze. Wird die Gruppe größer, so entfremden sich die Mitglieder, die Auseinandersetzungen innerhalb der Gruppe nehmen zu und es kommt entweder zur Teilung oder zur gewaltsamen Reduktion der Zahl männlicher Gruppenmitglieder. Die Auseinandersetzungen am Gombe waren die Folge einer derartigen Teilung. Die Tötung eines männlichen Gruppenmitglieds wurde bisher nur einmal beobachtet und zwar in einem Zoo. Die Frage, ob so etwas auch in freier Wildbahn geschieht, ist noch offen (de Waal, 1991).

Dabei überlegt sich natürlich kein Schimpanse, wann der richtige Augenblick gekommen ist, die eigene Gruppe zu destabilisieren, um daraus auf lange Sicht einen Fortpflanzungsvorteil zu ziehen. Der Zusammenhalt der Gruppe ergibt sich vielmehr aus der Enge des persönlichen Kontaktes unter den Gruppenmitgliedern, und dieser wird durch soziale Tätigkeiten wie das Lausen aufrechterhalten. Eine gewisse Rolle spielt sicherlich auch, daß Schimpansenmännchen ihren Verband nicht einfach verlassen können, da sie im Falle einer Begegnung mit fremden Männchen mit einem schweren Angriff rechnen müssen. Natürlich läßt sich die Zahl der auf diese Weise verbundenen Individuen nicht beliebig steigern, denn auf der anderen Seite steht ein gesundes Maß an angeborenem Eigennutz in Fragen der Fortpflanzung. Während die sozialen Wechselwirkungen innerhalb der Gruppe mit steigender Zahl adulter Männchen immer komplexer werden und ihre Bindung aneinander im Schnitt abnimmt, nimmt die Zahl möglicher Koalitionen für einen Machtkampf zu.

Die Stabilitätsgrenze für die Zahl der zu einer Gruppe gehörenden Schimpansen läßt sich offensichtlich unter intensivem Einsatz der Sexualität etwas nach oben verschieben. Laut Kano standen die Bonobos vermutlich vor der Aufgabe den Gruppenzusammenhalt zu festigen, da große Gruppen in ihrem Lebensraum besser in der Lage sind, die Nahrungsressourcen gut zu nutzen. Ihre Gruppenverbände sind mit bis zu 100 Individuen größer, als bei gewöhnlichen Schimpansen, wobei Sexualität vor allem von den Weibchen präventiv eingesetzt wird, um Aggressionen gar nicht erst aufkommen zu lassen (Savage-Rumbaugh & Lewin 1995; de Waal, 1995). Bonobos ähneln in vielen Aspekten ihres Sexualverhaltens dem Menschen, was zu ihrer Bevorzugung als Vorfahrenmodell beigetragen hat.

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Doch wenn die ausgeprägte Sexualität der Bonobos eine entwicklungsgeschichtliche Antwort auf die Anforderungen bei der Nahrungsbeschaffung in ihrem Lebensraum ist, hat es sie in der letzten Eiszeit so noch nicht gegeben (siehe Kap. 2.4).

Daß der Mensch ebenfalls vor der Aufgabe stand, möglichst große Gruppenverbände zu stabilisieren, liegt angesichts der Bedeutung der Auseinandersetzungen zwischen den Gruppen auf der Hand. Und der Mensch hat dabei anscheinend die Möglichkeiten, die die Sexualität zur Stabilisierung von Gruppen bietet ebenso voll ausgeschöpft, wie die Bonobos. Das hat jedoch sicherlich nicht zu ähnlichen Sozialstrukturen geführt, da die dahinterstehende Aufgabe eine ganz andere war. Die hohen Stellungen, die Bonoboweibchen in ihren Verbänden einnehmen, waren für weibliche Hominiden von jeher unerreichbar. Männliche Hominiden mußten immer aggressiv und später auch kriegerisch sein, dabei hatte ihre Kooperation untereinander immer einen hohen Überlebenswert. Sie hatten infolgedessen immer die besten Voraussetzungen, die Spitzenpositionen in der Gruppenhierarchie unter sich aufzuteilen. Da in menschlichen Gruppenverbänden die Männer ausgesprochen wehrhaft, aggressiv und dominant bleiben mußten, konnten auch unter Einsatz der Sexualität wahrscheinlich unter vorkulturellen Bedingungen keine so große Gruppen stabilisiert werden, wie man sie bei den ausgesprochen friedfertigen Bonobos beobachten kann. Eher ist es wohl so, daß eine weitere Verringerung der Gruppengröße infolge der hohen, geforderten Aggressivität der Männer durch Einsatz der Sexualität verhindert werden konnte.

Bei Schimpansen ist die Gruppenstruktur also eng mit dem Sexualverhalten verflochten und dieses wiederum aufgrund seiner elementaren Bedeutung für die Fortpflanzung sicherlich genetisch wirkungsvoll abgesichert. Gerade das Sexualverhalten, und daran gekoppelt die Gruppenstruktur, waren ebenso beim Menschen emotional fest verankert und widersetzten sich sehr lange elementaren Eingriffen durch die infolge der Sprachentwicklung aufkommende kulturelle Entwicklung. Dies galt um so mehr, als beim Menschen die Sexualität eine bedeutende Rolle bei der Stabilisierung der Gruppen übernommen hatte und damit Funktionen besaß, die die Gruppen stärkten. Ein kultureller Eingriff in das Sexualverhalten konnte also leicht zu einer Schwächung der Gruppe führen und wäre damit aus kultureller Sicht kontraproduktiv gewesen, denn die kulturelle Evolution dürfte bei kleinen, ethnozentrischen Verbänden durch Gruppenselektion gekennzeichnet gewesen sein (siehe Kap. 6.5). Andererseits ergab sich aus der natürlichen Gruppenstruktur des Menschen ebenso wie bei Schimpansen eine Beschränkung für die Größe und damit die Wehrhaftigkeit der Gruppen. Eine Aufhebung dieser Beschränkung mußte auf lange Sicht zu einer wesentlichen Stärkung der Gruppenverbände führen.

Für die Entwicklungslinie des Menschen sollte man eigentlich seit dem Übergang zum Homo erectus damit rechnen, daß die Gruppen immer größer wurden. Die Wehrhaftigkeit der Gruppen stand ja stärker im Vordergrund als je zuvor. Die Frage ist jedoch, wieviel Spielraum eine nach Schimpansenmuster strukturierte

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Gesellschaft zur Vergrößerung der Gruppe besaß, da eine Vergrößerung der Gruppen auf emotionaler Ebene mit den elementarsten Anpassungen aus dem Fortpflanzungsbereich kollidierte.

Die einer Schimpansengesellschaft immanente Beschränkung der Gruppengröße und deren letztendliche Überwindung durch kulturelle Maßnahmen stellen meiner Meinung nach den Schlüssel zum Verständnis der Vorgänge beim Übergang zum Jungpaläolithikum dar. Daß die Jungpaläolithiker in größeren Gruppenverbänden auftraten, als z.B. die Neandertaler, die von ihnen in Europa abgelöst wurden, wird durch archäologische Funde nahegelegt. Angesichts der hohen Bedeutung, die im SWAK-Modell den artinternen Auseinandersetzungen beigemessen wird, sind die zahlenmäßig überlegenen Gruppenverbände der Jungpaläolithiker eine hinreichende Erklärung für deren Ausbreitungserfolg. Die kulturelle Überwindung der biologischen Beschränkung der Gruppengröße verschaffte einer relativ kleinen, menschlichen Population die Überlegenheit, die nötig war, um alle anderen, biologisch weitgehend gleichwertigen, menschlichen Populationen in kurzer Zeit zu verdrängen. Sie ebnete gleichzeitig den Weg vom Aasfresser zum Großwildjäger.

Trotz seiner immensen Wehrhaftigkeit war der Mensch ein miserabler Jäger, da es ihm schlicht nicht gelang, bewegliche Tiere zu stellen. Das führte vermutlich zu der grotesken Situation, daß ein wehrhafter Höhlenbär, der sich den Angreifern stellte für die Neandertaler eine bessere Beute abgab, als ein Reh. Große Gruppen eröffneten beim Übergang zum Jungpaläolithikum die Möglichkeit effektiver Treibjagd. Der Mensch, der darauf spezialisiert war, gefährliche Tiere zu verjagen, war in großen Verbänden wiederum geradezu prädestiniert, seine Jagdbeute ins Verderben zu treiben. Der Übergang zur Treibjagd ist durch Fossilien belegt. Vor dem Jungpaläolithikum handelte es sich bei den von den Menschen verzehrten Tieren in erster Linie um besonders junge oder besonders alte Individuen. Dies entspricht der Zusammensetzung, die bei einem Aasfresser zu erwarten ist. Nach Beginn des Jungpaläolithikums repräsentieren die gefundenen Knochen besser das Altersprofil der Tierherden - ein Hinweis auf erfolgreiche Jagd (Lewin, 1995 a). Durch kulturelle Umwälzungen wurde ein Aasfresser und miserabler Jäger innerhalb von wenigen Jahrtausenden zum gefährlichsten Jäger der Weltgeschichte.

Die Überwindung der natürlichen Größenbeschränkung menschlicher Sozialverbände machte einen umfangreichen kulturellen Maßnahmenkatalog erforderlich. Dies erklärt sowohl die dramatischen Veränderungen beim Übergang zum Jungpaläolithikum, als auch, warum dieser Übergang erst so spät und auf einem so hohen geistigen Entwicklungsniveau des Menschen stattfand: Der Gruppenzusammenhalt wurde durch die Männer gefährdet, da sie einerseits naturgemäß aggressiver sind als Frauen, andererseits innerhalb der Gruppe im Fortpflanzungswettbewerb standen. Bevorzugte Geschlechtspartnerinnen stellten dabei den wichtigsten Zankapfel dar und eine feste Zuordnung der Frauen an bestimmte Männer konnte dazu beitragen, die Gruppe zu stabilisieren. Solange solche Zuordnungen jedoch nur auf der Grundlage von
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Übereinkünften unter den Männern basierten, reflektierten sie lediglich die Machtverhältnisse innerhalb der Gruppe und konnten zusammen mit diesen in Frage gestellt werden. Da Frauen darüber hinaus in verschiedenen Lebensphasen nicht immer gleich attraktiv waren, waren ranghohe Männer oft geneigt ihre Partnerin zu wechseln. Ein entscheidender kultureller Durchbruch bestand daher darin, daß die dauerhafte Zuordnung von Sexualpartnern zur Norm erklärt und unter den Schutz nicht angreifbarer Mächte (z.B. Ahnengeister oder Götter) gestellt wurde.

Stammesverbände wurden erst möglich, als es gelang, den Austausch von Frauen zwischen verschiedenen Teilgruppen im gegenseitigen Einvernehmen zu regeln. Bei rezenten Naturvölkern spielt der Austausch von Geschenken dabei eine entscheidende Rolle. Vermutlich haben solche Bräuche beim Übergang zum Jungpaläolithikum ihren Ursprung. Geschenke waren notwendig, da es nicht immer in beiden Teilgruppen junge Frauen gab, die gegeneinander ausgetauscht werden konnten und wenn doch, so konnte ihr “Wert” durchaus verschieden eingestuft werden. Gegenstände, die als Geschenke überreicht werden sollten, besaßen neben dem reinen Nutzwert natürlich einen hohen ideellen Wert, denn sie sollten die Hochachtung des Schenkenden reflektieren. Es machte sich auch immer gut etwas zu schenken, was der Beschenkte noch nicht besaß. Damit fanden Innovation und hoher Aufwand bei der Fertigung Eingang in die materielle Kultur. Die Zahl verschiedener Gebrauchsgegenstände explodierte geradezu und verschiedenartige Schmuckgegenstände kamen hinzu. Es wurden neue Materialien verwendet und teilweise erheblicher Aufwand getrieben, um an bessere Materialien zu gelangen.

Der enge, persönliche Kontakt, der in ursprünglichen, menschlichen Verbänden ein intensives Gefühl der Zusammengehörigkeit vermittelte, konnte in großen, sich aus Gründen des Nahrungserwerbs zeitweise aufspaltenden Verbänden diese Aufgabe nicht mehr erfüllen. Erhöhte Bedeutung kam daher nun Sitten und Gebräuchen zu, die ein Gefühl der Zusammengehörigkeit vermittelten. Ahnenmythen, gemeinsame Feste mit synchronisierten Handlungen wie Tanzen und Singen, für den politischen Verband charakteristische Initiationsriten, der Austausch von Geschenken (Eibl-Eibesfeldt, 1995 und 1991), eine zweckmäßige Heiratspolitik und das kulturell gepflegte Bewußtsein, eine Schicksalsgemeinschaft im Kampf gegen äußere Feinde zu sein, erzeugten ein Gemeinschaftsgefühl. Natürlich spielte auch eine gemeinsame Sprache eine große Rolle. Einige dieser Mittel zur Festigung der Gruppe haben sich wohl bereits vor dem Übergang zum Jungpaläolithikum infolge der wachsenden Sprachfähigkeit entwickelt und ihren Teil zur Festigung der Gruppen beigetragen (in Frage kommen dabei Sitten und Gebräuche, die prinzipiell mit der ursprünglichen Gruppenstruktur und den Interessen dominanter Männer vereinbar waren).

Regeln sind nur da notwendig, um auf die Handlungen des Menschen Einfluß zu nehmen, wo der Mensch von Natur aus dazu neigt, sich anders zu verhalten.

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Mit der Einführung umfangreicher Regeln, die ja vor allem das emotional stark befrachtete Sexualverhalten des Menschen berührten und kanalisierten, ergab sich auch die Notwendigkeit, mit Überschreitungen dieser Regeln fertig zu werden. Es mußte also festgelegt werden, wie ein Übeltäter zur Rechenschaft gezogen werden konnte (zum Beispiel im Falle eines Seitensprungs), ohne daß sich seine nächsten Angehörigen schützend vor ihn stellten und die Stabilität des Stammes gefährdeten (entsprechende Sitten bei Naturvölkern siehe Eibl-Eibesfeldt 1995). Auch hier mußten höhere Interessen ins Feld geführt werden, um die Menschen dazu zu bewegen, sich im Widerspruch zu ihrer Natur zu verhalten. Der Nährboden für eine intensive, religiöse Entwicklung war also bereitet.

Die größeren Gruppenverbände, die im Jungpaläolithikum möglich wurden, befruchteten ihrerseits in vielfältiger Weise die kulturelle Entwicklung:

>  Handwerkliche Traditionen profitierten nicht nur von der großen Nachfrage nach Geschenken. In größeren Verbänden konnte es auch eher zu Arbeitsteilung und handwerklichen Spezialisierungen kommen. Ein begabter Schüler fand auch viel eher einen guten Lehrer und ein erfahrener Handwerker konnte umgekehrt viel leichter begabte Schüler finden.

>  Die Arbeitsteilung ermöglichte die ungleichmäßige Verteilung des kulturellen Wissens auf die Gruppenmitglieder und erlaubte dadurch wesentlich umfangreichere Informationen von Generation zu Generation weiterzugeben. Man darf nicht vergessen, daß die kulturelle Entwicklung bis zur Entwicklung der Schrift klaren Beschränkungen unterlag, da sämtliche Informationen im Gedächtnis der Gruppenmitglieder “Platz” finden mußten.

>   Infolge der Arbeitsteilung wurden auch zunehmend umfangreiche Informationen von Spezialisten an Spezialisten (Werkzeughersteller, Schamanen, Künstler usw.) weitergegeben. Dadurch konnten sich im Kulturgut auch anspruchsvollere Informationen anreichern, da der Informationsverlust durch Mißverständnisse verringert wurde.

>   Auch die Materialbeschaffung wurde erleichtert, da die Territorien der politischen Einheiten nicht mehr so stark fragmentiert waren. Die neuerdings hohe Bedeutung der materiellen Kultur führte auch trotz aller Widrigkeiten zur Entwicklung eines Handels zwischen benachbarten Gruppen.

>   Die Größe der politischen Verbände hing nun auch von der Effektivität des Nahrungserwerbs ab, so daß die Erschließung neuer Nahrungsquellen große Bedeutung erlangte. Und die Umstellung auf die Jagd und teilweise auch auf den Fischfang als bedeutende, neue Quellen für tierische Nährstoffe zog die Entwicklung vieler neuer Werkzeuge nach sich.

>   Die Überwindung der Begrenzung der Gruppengröße beim Übergang zum Jungpaläolithikum setzte einen kulturellen Wettlauf der Gesellschaftssysteme in Gang (oder beschleunigte ihn zumindest erheblich), bei dem es in erster Linie darum ging, welchem System es gelang, die größten Gruppenverbände und die

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höchste Bevölkerungsdichte zu verwirklichen. Von diesen Größen hingen von nun an die Wehrhaftigkeit und das Überleben ganzer politischer Einheiten primär ab. Dies war wohl auch der entscheidende Antrieb bei der neolithischen Revolution, denn der Lebensstandard nahm beim Übergang zum Ackerbau ab. Da die Stabilisierung größerer Gruppen nach Einsetzen des Jungpaläolithikums eine rein kulturelle Aufgabenstellung war, waren Sitten und Gebräuche einer stärkeren Selektion ausgesetzt, als je zuvor. Daß sämtliche menschlichen Verbände, die den Übergang zum Jungpaläolithikum nicht mitgemacht hatten, innerhalb von wenigen Jahrtausenden von der Erdoberfläche verschwanden, markiert lediglich den Beginn dieses rigorosen Selektionsprozesses. Er setzt sich fort mit der Verdrängung der Jäger durch Hirten, der Nomaden durch seßhafte Ackerbauern und der Stammesgesellschaften durch staatlich organisierte Gemeinschaften, die wiederum mit der Zeit immer größer wurden.

Die genetische Evolution im Sinne einer Weiterentwicklung der menschlichen Fähigkeiten kam dagegen mit dem Beginn des Jungpaläolithikums praktisch zum Erliegen. Menschenaffen sind angesichts ihrer hohen Generationsdauer und niedriger Fertilität eigentlich schlecht geeignet, um schnelle evolutionäre Fortschritte zu erzielen. Die dynamische Entwicklung der zum Menschen führenden Linie war daher vermutlich nur aufgrund der schimpansenähnlichen Gruppenstruktur möglich. Die ausgeprägte sexuelle Selektion in einer multimaskulinen Gesellschaft war der wichtigste Motor der Evolution zum Menschen. Durch die sexuelle Selektion werden die imposantesten Männchen einer multimaskulinen Gruppe bevorzugt und das, worauf sich die Hominiden spezialisiert hatten, waren im Prinzip großartige Imponierveranstaltungen vor Raubtieren. Die besten Werfer gehörten automatisch auch zu den imposantesten Männchen der Gruppe, mit entsprechend guten Aussichten auf einen hohen Rang und überdurchschnittlichen Fortpflanzungserfolg. Die infolge der Werfer-Anpassungen weiterentwickelten intellektuellen Fähigkeiten hatten darüber hinaus, durch ihren Einsatz im “innenpolitischen Bereich”, auch direkt eine hohe Bedeutung für die Rangordnung und damit den Fortpflanzungserfolg. Eine gewisse Rolle spielen sie ja auch schon bei Schimpansen, wie Jane Goodall festgestellt hat, die den Aufstieg eines von ihr beobachteten Schimpansen (Mike) an die Gruppenspitze zu einem großen Teil auf dessen Intelligenz zurückführt (Goodall, 1991).

Da bei dem Übergang zum Jungpaläolithikum die schimpansenähnliche Gruppen­struktur zugunsten einer festen Zuordnung von Sexualpartnern aufgegeben wurde, wurde auch die sexuelle Selektion weitgehend außer Kraft gesetzt. Dies machte sich dann unter anderem dadurch bemerkbar, daß das Gehirnvolumen des Homo sapiens seitdem abgenommen hat (Martin, 1995) - das hohe Niveau konnte ohne wirkungsvolle Selektion zum größeren Gehirn hin nicht mehr gehalten werden. Das vor Beginn des Jungpaläolithikums beim Gehirnvolumen erreichte Niveau kann man sich als dynamischen Gleichgewichtswert vorstellen - ein Niveau, auf dem Kosten und Nutzen eines großen Gehirns für die Fitneß der Menschen im

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Gleichgewicht waren. Aufgrund der Auseinandersetzungen zwischen den Gruppen verschob sich dieses Gleichgewicht im Laufe der Zeit langsam in Richtung immer höherer Gehirnvolumina und diese Tendenz hätte ohne den Übergang zum Jungpaläolithikum vermutlich auch weiter angehalten. Der Nutzen bestand wohl zu einem bedeutenden Teil in besseren Chancen intelligenterer Männer auf einen hohen Rang in der Gruppe und dem daraus resultierenden, hohen Fortpflanzungserfolg solcher Männer in einer multimaskulinen Gesellschaft. Die Kosten ergaben sich vermutlich in erster Linie aus dem höheren Energieverbrauch, einem höheren, elterlichen Investment in die “Erziehung” der Kinder und einem erhöhten Risiko für Mutter und Kind bei der Geburt, die ein größeres Gehirn mit sich bringt. Da der Nutzen eng an die Gesellschaftsform gekoppelt war, nahm er nach ihrer Änderung deutlich ab und das System suchte sich einen neuen Gleichgewichtspunkt (oder ist immer noch unterwegs dahin). Die meisten Gesellschaften boten zwar ranghohen Männern auch nach dem Beginn des Jungpaläolithikums die Möglichkeit, mehrere Frauen zu nehmen und damit zu überdurchschnittlichem Fortpflanzungserfolg zu gelangen, die Rangordnung hing aber infolge der intensiven kulturellen Entwicklung immer weniger von der Qualität oder Art des Erbguts des jeweiligen Mannes ab, da hohe Ränge vererbt wurden. Den bisher gründlichsten Versuch, die sexuelle Selektion zum Erliegen zu bringen, stellt die zum Beispiel im Christentum propagierte Forderung nach Einehe und ehelicher Treue dar (Eibl-Eibesfeldt, 1995).

Der Übergang zum Jungpaläolithikum war vielleicht ein Vorgang, der einerseits in dieser oder ähnlicher Weise schon seit mehreren hunderttausend Jahren möglich gewesen ist, andererseits aber auch noch mehrere hunderttausend Jahre länger hätte auf sich warten lassen können. Dabei hing der tatsächliche Zeitpunkt nur unwesentlich von der erlangten geistigen und sprachlichen Leistungsfähigkeit ab. Vermutlich befand sich die Menschheit vor dem Übergang zum Jungpaläolithikum in einer Art Teufelskreis. Einerseits waren weitreichende kulturelle Maßnahmen notwendig um größere Gruppen zu stabilisieren, andererseits waren große Verbände ihrerseits eine Voraussetzung zur Entwicklung und Erhaltung der zu ihrer eigenen Stabilisierung notwendigen Sitten und Gebräuche.

In kleinen Verbänden ist der Einfluß des Einzelnen natürlich deutlich größer als in großen Verbänden. Kulturelle Forderungen, die den Interessen des Einzelnen zuwiderliefen und seinen Widerstand provozierten, konnten in kleinen Verbänden leicht durch ausgesprochen dominante Männer ignoriert werden. Unter solchen Umständen konnten nur unter ganz besonderen Bedingungen Regeln entstehen und sich halten, die eine Vernachlässigung der Fortpflanzungsinteressen des Einzelnen (vor allem des Mächtigen) zugunsten von Gruppeninteressen forderten. Selbst in kulturell sehr weit entwickelten Gesellschaften haben dominante Männer noch immer einen Weg gefunden, um sich über gesellschaftliche Normen unbestraft hinwegzusetzen, die es ihnen verboten haben, den eigenen sexuellen Neigungen nachzugehen. In einem Gruppenverband, zu dem nur wenige Männer gehörten, traten sicher regelmäßig Männer auf, die den Verband so eindeutig dominierten, 300


daß sie entsprechende Regeln nicht nur ignorieren, sondern abschaffen konnten. Damit fanden entsprechende kulturelle Neuerungen aber auch ein schnelles Ende und gerieten schnell in Vergessenheit, da es ja auch keine Schrift gab, um sie zu fixieren.

In größeren Verbänden stand der Einzelne mit seinen egoistischen Fortpflanzungs­interessen wesentlich mehr Männern und Frauen gegenüber, die unter kulturellem Einfluß bereit gewesen wären, die Gruppeninteressen gegen ihn zu verteidigen. Daher konnten sich in großen Verbänden recht schnell Mechanismen zu deren Stabilisierung entwickeln und blieben auch leichter erhalten - das Problem war nur, daß menschliche Verbände ursprünglich klein waren und es daher lange Zeit keine großen Verbände gab. Unter solchen Bedingungen ist der tatsächliche Übergang zum Jungpaläolithikum wahrscheinlich nur bei Kenntnis der tatsächlichen, geschichtlichen Vorgänge zu verstehen. Einerseits konnte der Teufelskreis jederzeit durchbrochen werden - andererseits mußten sicher recht ungewöhnliche Umstände zusammenkommen, damit dies tatsächlich geschah. Damit stellt sich aber auch unmittelbar die Frage, inwieweit der Homo sapiens sapiens tatsächlich durch seine Leistungsfähigkeit dazu “bestimmt” war, alle anderen Menschen zu verdrängen. Es ist sehr gut denkbar, daß die Situation vor dem Jungpaläolithikum derjenigen beim Lotto entsprach. Alle menschlichen Gesellschaften spielten seit mehreren hundert tausend Jahren das gleiche Spiel - bis eine Population des Homo sapiens sapiens vor ca. 70 Tsd. Jahren sechs Richtige bekam, den Hauptgewinn kassierte, sämtliche Immobilien damit aufkaufte und alle anderen auf die Straße setzte.

Zu den “Anderen” gehörten dabei wohl auch die meisten angehörigen der eigenen biologische Kategorie - ob man sie nun als Art, Unterart, Rasse oder wie auch sonst immer klassifiziert. Biologisch entwickelte sich der anatomisch moderne Mensch wohl im gesamten Afrika und darüber hinaus auch noch in Teilen des Nahen Ostens. In diesem Siedlungsraum gab es vor 70 000 Jahren vermutlich eine Bevölkerung des Homo sapiens sapiens, die eine oder gar mehrere Millionen Individuen umfaßte. Molekularbiologischen Ergebnissen zufolge haben jedoch nur ca. 10 000 davon bis zum heutigen Tage Nachkommen hinterlassen und wurden somit zu unseren Vorfahren (Stringer & McKie, 1996). Alle anderen Linien des anatomisch modernen Menschen starben genauso aus, wie sämtliche Neandertaler und die lokalen Populationen Asiens aus jener Zeit. Und ich sehe keinen Grund, dafür nach einer anderen Erklärung zu suchen, als für das Verschwinden der Neandertaler. Wir haben es daher wahrscheinlich mit einem Verdrängungsprozeß zu tun, in dessen Verlauf nicht nur Populationen verschwanden, die sich genetisch und phänotypisch deutlich von den Eroberern abhoben, sondern auch Populationen, die ihnen biologisch praktisch identisch waren. Als Erklärung für diesen Prozeß kommen allein schon daher biologische Ansätze, wie die Entwicklung der Sprachfahigkeit nur beim Homo sapiens sapiens, kaum in Frage.

Soweit meine Einlassungen vor 10 Jahren. Archäologen möchte ich an dieser Stelle um Verzeihung bitten, weil ich einerseits vom Übergang zum Jungpaläolithikum gesprochen habe, diesen Vorgang aber andererseits in Afrika annahm, wo diese Bezeichnung nicht üblich ist. Die verschiedenen lokalen Namen für Hinterlassenschaften, die auf modernes Verhalten hin weisen tun bei meinen Überlegungen jedoch letztendlich nichts zur Sache. Vergleicht man diese Überlegungen mit der aktuellen Veröffentlichung von Zenobia Jacobs und Richard G. Roberts im Spektrum der Wissenschaft unter dem Titel “Kam die Kultur aus Afrika?” (Dezemberausgabe 2009), so erkennt man, dass sich die Forschung inzwischen meiner damaligen Sichtweise angenähert hat. Sie beschliessen ihren Beitrag mit folgendem Absatz:

“Bis dahin mögen Forscher spekulieren: Entzündete sich modernes Denken in Ostafrika? Löste ein Geistesblitz in einer ihrer Gruppen, mutmaßlich angehörigen der genetischen Linie L3, einen ersten entscheidenden Kulturschub aus? Irgendeine geniale Idee könnte dann weitere Neuerungen angeregt haben, die letztlich den sozialen Zusammenhalt und die Nutzung von Ressourcen beförderten. Dank dessen vermehrten und verbreiteten sich jene Menschen rasch - das wiederum veranlasste weitere Entwicklungen. In naher Folge davon könnte in Südafrika die Stillbay- und die Howieson’s-Poort-Kultur aufgekommen sein. Vor allem bot die neue Art des Denkens und der Lebensführung vielleicht gute Voraussetzuingen, um Afrika zu verlassen.”

Diese Spekulationen weisen in die gleiche Richtung wie meine Überlegungen vor 10 Jahren. Betont werden bei ihnen kulturelle Entwicklungen, wobei der Bevölkerungsdichte eine Schlüsselrolle unterstellt wird. Dies passt in mein Modell, das im Übergang zum modernen Verhalten des modernen Menschen einen rein kulturellen Vorgang sah und in der Gruppengrösse einen kritischen Faktor. Während jedoch die Spekulationen von Jacobs und Roberts auf der Auswertung neuer, bzw. neu datierter archäologischer Funde und auf genetischen Untersuchungen beruhen, ergaben sich meine Überlegungen als Konsequenz aus meinem Modell der menschlichen Evolution, wobei evolutionstheoretische Überlegungen zu den Wechselbeziehungen zwischen kultureller und organischer Evolution eine wichtige Rolle spielten. Daß aktuelle Forschungsergebnisse aus ganz anderen Disziplinen inzwischen in die gleiche Richtung weisen ist ein weiterer Beleg für die Leistungsfähigkeit meines bereits 1999 veröffentlichten Modells. Die Analogien in den Überlegungen gehen sogar noch weiter. Dem “zündenden Geistesblitz” von Jacobs und Roberts liegen ähnliche Vorstellungen zugrunde wie meinen “sechs Richtigen” vor 10 Jahren - und das ist schade, denn gerade an dieser Stelle vermute ich inzwischen, dass ich falsch gelegen habe.

Ironischerweise ist der Fehler, der mir vermutlich unterlaufen ist im Prinzip geradezu klassisch für viele kursierende Überlegungen zur menschlichen Evolution. Aus diesem Grund will ich an dieser Stelle ein wenig weiter ausholen. Meine Sicht evolutionärer Prozesse wurde durch eine Vorlesung im Fach Flugbahnoptimierung geprägt. Auch bei der Evolution handelt es sich letztlich lediglich um einen Optimierungsalgorithmus, bei dem im Verlauf einer Vielzahl von Iterationsschritten optimierte Lösungen erzeugt werden. Ein für evolutionstheoretische Überlegungen sehr wichtiger Aspekt bei Optimierungsläufen ist die Unterscheidung zwischen aktiven und passiven Randbedingungen. Paläoanthropologische Diskussionen leiden meines erachtens stark darunter, dass man dazu neigt anzunehmen, dass denkbare Einflußgrössen auch tatsächlich Einfluß auf den Verlauf der menschlichen Evolution genommen haben. Die Unterscheidung in aktive und passive Randbedingungen bei Optimierungsrechnungen zeigt jedoch, daß viele Randbedingungen “nebenbei” eingehalten werden, ohne den Optimierungslauf tatsächlich zu beeinflussen - sie sind passiv (diese Problematik finden wir bei evolutionstheoretischen Überlegungen wieder, wenn es um die Unterscheidung zwischen Anpassungsleistungen und emergenten Eigenschaften geht). Was hat dies mit dem Übergang zum modernen Verhalten zu tun?

Ich habe 1999 vermutet, dass eine biologische Beschränkung für die Größe von Schimpansenähnlich organisierten Gruppenverbänden ungeachtet der sich entwickelnden Kulturfähigkeit ein “Durchstarten” der kulturellen Evolution verhindert hat. Auch heute gehe ich noch davon aus, dass das moderne Verhalten im wesentlichen auf memetischer Verwandtenselektion basierte und daher grössere Gruppenverbände erforderte. Die aktive Randbedingung allerdings, die in vorangegangenen Zeiträumen ein Zustandekommen derartiger Verbände verhinderte, war vermutlich nicht eine biologische Beschränkung, sondern die Ernährungssituation. Als Jäger und Sammler lebten unsere Vorfahren vermutlich schon aus Rücksicht auf den Nahrungserwerb in so kleinen Verbänden, dass eine für das Durchstarten der kulturellen Evolution kritische Größe nicht erreicht wurde. Dies änderte sich erst, als Menschen anfingen in nennenswertem Umfang Nahrungsmittel aus dem Meer zu gewinnen. Einzelne Küstenstandorte können sehr ergiebig sein und bedeutende Populationen ernähren. Die Funde am Pinnacle Point in Südafrika lassen darauf schliessen, dass Menschen sich bereits vor ca. 164 000 Jahren daran machten die Nahrungsressourcen des Meeres zu nutzen und im Ansatz moderne Verhaltensweisen zu entwickeln. Für die Art und Weise, wie modernes Verhalten entwickelt wurde ergibt sich damit ein deutlich anderes Szenario:

Wir haben es vermutlich nicht mit einem einmaligen Durchbruch zu tun, sondern mit allmählicher Weiterentwicklung durch kumulative Selektion und mit einer Anzahl von Anläufen von unterschiedlichen Küstenstandorten aus. Die Nutzung der Meeresressourcen führte möglicherweise zur Entstehung einer ganzen Reihe von “Hot Spots” der kulturellen Evolution und einige davon lagen vielleicht gar nicht in Afrika, sondern in Asien. Jeder dieser Hot Spots kann im Verlauf der 100 000 Jahre zwischen der Besiedlung am Pinnacle Point und dem Start der großen Expansion unserer Vorfahren zum Ausgangspunkt weiterer Expansionswellen geworden sein, deren genetische Spuren von der Expansion unserer Vorfahren getilgt wurden. Wir sollten damit rechnen, dass es sich bei diesen 100 000 Jahren um kulturelle Gründerzeiten handelte, mit all ihren Begleiterscheinungen. Es ist typisch für Gründerzeiten, dass sie dazu führen, dass mit den unterschiedlichsten Ansätzen Experimentiert wird. Das war so bei der kambrischen Explosion, als die Baupläne der höheren Organismen entwickelt wurden, aber das war auch nicht anders, als sich die ersten Pioniere aufmachten Fluggeräte zu entwickeln. Optimierte, moderne Flugzeuge wirken geradezu standardisiert und langweilich, wenn man sie mit den zahlreichen Entwürfen aus der Pionierzeit der Fliegerei vergleicht. Vielleicht wurden im Zeitraum zwischen 160 000 und 60 000 Jahren vor unserer Zeit an den Küsten Afrikas und Asiens mehr grundsätzlich unterschiedliche Gesellschafssysteme entwickelt, als wir uns heute vorstellen können.

Revolutionen fressen jedoch ihre Kinder und unsere Vorfahren haben anscheinend gründlich dafür gesorgt. dass nur ihre kulturelle Tradition überdauert hat. Die archeologischen Hinterlassenschaften aus der Gründerzeit könnten jedoch noch sehr interessant - und vermutlich auch reichlich verwirrend - werden. Die wichtigsten Entwicklungszentren lagen vermutlich entlang der damaligen Küstenlinie und dürften sich heute unter dem Meeresspiegel befinden. Um ihre Spuren zu entdecken wird man entweder die Unterwasserarchäologie bemühen müssen - oder auf die nächste Eiszeit warten. Die beiden von Jacobs und Roberts im südlichen Afrika untersuchten Kulturen erstreckten sich offensichtlich auch noch ein Stück ins Landesinnere hinein. Die Siedlungen im Landesinneren lagen jedoch vermutlich jeweils an der Peripherie des jeweiligen Kulturkreises und boten aufgrund der fehlenden Meeresressourcen nur unzureichende Voraussetzungen zur kulturellen Entfaltung. Vielleicht war ihre Existenz auch stärker von klimatischen Faktoren abhängig, als im Falle echter Küstenstandorte mit ergiebigen Meeresressourcen. Andere Kulturen mögen sich ausschließlich auf die Küste konzentriert haben, weil ihre soziale Organisation sich nicht sinnvoll an die Anforderungen eines Lebens als Jäger und Sammler anpassen liess. So wäre es durchaus denkbar, dass die von Jacobs und Roberts untersuchte Stillbay - Kultur unterging, weil sie an der Küste, also in ihrem mutmaßlichen, kulturellen “Herzland” durch eine andere Kultur verdrängt wurde, die im Landesinneren keine Spuren hinterliess. Um zu verstehen, was sich da abgespielt hat müssen wir daher wissen, was an den damaligen Küsten los war.

 

Rekonstruktion menschlichen Verhaltens im evolutionären Entwicklungszeitraum

26. Oktober 2009

Die Rekonstruktion des menschlichen Verhaltens im Evolutionszeitraum ist mit erheblichen methodischen Schwierigkeiten verbunden. Es ist unerläßlich sich über einige elementare, evolutionstheoretische Aspekte Klarheit zu verschaffen, bevor man an diese Aufgabe herantritt:

- Menschliches Verhalten wird nicht nur über biologische Anpassungsleistungen gesteuert.
Um auf der Ebene der sogenannten “letzten Ursachen” verstehen zu können, warum ein beobachteter Funktionskomplex (Z.B. eine Verhaltensweise) entstanden ist, muß man sich anschauen, wer oder was die Entstehung dieses Funktionskomplexes bewirkt hat - man muß nach den Quellen funktionaler Komplexität suchen.
Die bekanntense und wissenschaftlich etablierteste derartige Quelle ist die genbasierte organische Evolution. Eine zweite Quelle, die für das menschliche Verhalten sicher ebenfalls eine bedeutende Rolle spielt, ist die memetische Evolution, wie sie Richard Dawkins in Analogie zur organischen Evolution angedacht hat. Die memetische Evolution stellt meines Erachtens aber nur eine von mindestens zwei Quellen funktionaler Komplexität dar, die zur kulturellen Evolution beitragen. Die andere - beim Menschen gelegentlich sehr ergiebige - Quelle funktionaler Komplexität ist das schöpferische menschliche Gehirn. Dabei ist die Vorstellung zurückzuweisen, dass es sich bei diesem Gehirn um so etwas wie eine Darwin-Maschine handelt (Kreatives Denken nutzt die hoch entwickelten, kognitiven Fähigkeiten des Menschen und geht weit über das Lernen durch Versuch und Irrtum hinaus. Im Gegensatz zu einer Darwin-Maschine sind Menschen im Prinzip sogar in der Lage voraus zu denken). Mit dem meschlichen Gehirn gehört tatsächlich ein personifizierter “Schöpfer” zu den Quellen funktionaler Komplexität, während es sich bei den anderen beiden Quellen lediglich um Anreicherungsprozesse handelt. Nebenbei bemerkt bedeutet die Zugehörigkeit des menschlichen Gehirns zum illustren Kreis der Quellen funktionaler Komplexität, dass so etwas wie freier Wille zumindest im Prinzip möglich ist. Unter Nutzung seines Gehirns ist jeder Mensch in der Lage, sich sowohl über genetische als auch über kulturelle Vorgaben hinweg zu setzen. Für das Verhalten des Einzelnen kann sein Gehirn durchaus zur wichtigsten Quelle funktionaler Komplexität werden, tatsächlich genutzt wird diese in der Aufklärung propagierte Option jedoch nur von wenigen. Außerdem sind Verhaltensäußerungen, die sich auf einzelne Individuen beschränken global betrachtet nur von geringer Bedeutung.
Insgesamt haben wir es beim menschlichen Verhalten mit mindestens drei leistungsfähigen Quellen funktionaler Komplexität zu tun und nur bei einer davon können wir voraussetzen, daß ihre Erzeugnisse im Dienste der genetischen Fitneßmaximierung stehen. Dies bedeutet, dass menschliches Verhalten den Erklärungsrahmen des soziobiologischen Paradigmas im Prinzip sprengen kann. Evolutionstheoretisch stellt menschliches Verhalten eine enorme Herausforderung dar und es kann keine Rede davon sein, dass die theoretischen Grundlagen zur Interpretation menschlichen Verhaltens auf der Ebene der letzten Ursachen bereits sauber herausgearbeitet worden sind. Für die Rekonstruktion menschlichen Verhaltens im biologischen Entwicklungszeitraum bedeutet dies, daß die archäologischen und paläontologischen Belege nicht in einen vorhandenen Erklärungsrahmen eingeordnet werden können. Vielmehr war ich bereits vor 10 Jahren bei der Entwicklung des SWAK-Modells gezwungen diesen Rahmen selbst mit zu entwickeln. Die grundsätzlichen, evolutionstheoretischen Probleme bei der Behandlung menschlichen Verhaltens sind vermutlich die wichtigste Ursache dafür, dass die Erforschung des Prozesses der Menschwerdung sich so schwierig gestaltet. Der Mensch nimmt im Tierreich als Geistes- und vor allem als Kulturwesen eine evolutionstheoretische Sonderrolle ein.

- Das Verhalten unserer nächsten tierischen Verwandten passt noch recht gut ins soziobiologische Paradigma. Kulturelle Überlieferungen spielen zwar auch bei Schimpansen eine gewisse Rolle, scheinen jedoch zu keinen interpretatorischen Komplikationen zu führen. Dies ist vermutlich zu einem bedeutenden Teil damit zu erklären, dass Gene und Meme über weite Strecken gemeinsame “Ziele” haben können. Wenn kulturelle Informationen z.B. überwiegend von den Müttern auf ihre Kinder übertragen werden, dann sitzen sie - um mit Richard Dawkins zu sprechen - “im gleichen Boot” mit der Mitochondrien-DNA. Sie werden sich um so besser in der Population ausbreiten, je mehr Töchter die betreffende Mutter hat. So lange, wie kulturelle Informationen parallel zu den genetischen Informationen von Eltern auf Kinder weitergegeben werden, kommt es kaum zu “Interessenskonflikten” zwischen Genen und Memen eines Individuums. Memetische Selektion führt unter solchen Bedingungen zu Verhaltensmerkmalen, die die genetische Fitness der Individuen fördern und zumindestens oberflächlich keine Widersprüche zum soziobiologischen Paradigma generieren. Dies könnte nebenbei bemerkt im Rahmen der organischen Evolution zu Anpassungen geführt haben, die dafür sorgen, dass die kulturelle Evolution in der Regel nicht außer Kontrolle Gerät (analog zur Immunabwehr, die Viren bekämpft). Sehr hilfreich wäre hier z.B., wenn sich die betreffenden Individuen vor allem im Kindesalter kulturell prägen liessen, als Erwachsene aber für neue “Moden” resistent wären. Das würde dafür sorgen, dass kulturelle Informationen im Wesentlichen parallel zur genetischen Information von Eltern auf Kinder weitergegeben würden, sie würden dann ähnlichen Selektionskriterien unterliegen, wie die Gene und Anpassungen hervorbringen, die auch den Genen nützen. Bei den Schimpansen scheinen die Gene das Ruder noch in der Hand zu haben.

- Da Meme ähnlich wie Viren im Prinzip in der Lage sind sich unabhängig von der Fortpflanzung ihres Wirtes auszubreiten stellen sie aus genetischer Sicht ein bedeutendes Gefahrenpotential dar. Es stellt sich damit grundsätzlich die Frage, ob es aus genetischer Sicht überhaupt eine “gute Idee” ist ausgesprochene Kulturwesen hervor zu bringen. Anders ausgedrückt stellt sich die Frage, ob das heutige ”Kulturwesen” Mensch aus biologischer Sicht eine Errungenschaft oder ein “Betriebsunfall” ist. Die Armed Ape Theory plädiert angesichts des durch archäologische Funde belegten, zeitlichen Verlaufs der kulturellen Evolution für einen “Betriebsunfall” beim Übergang zum modernen Verhalten des modernen Menschen. Auch die Einmaligkeit dieses Prozesses in der Natur spricht dafür, daß Kulturfähigkeit in der Regel nicht positiv selektiert sondern eher vermieden wird. Im Falle des Menschen ergab sich die Kulturfähigkeit der Armed Ape Theory zufolge im Wesentlichen als Nebenprodukt der Anpassungen an das Werfen und das Sprechen, wobei die Sprachentwicklung ihrerseits keine Anpassung an die Kulturfähigkeit darstellte, sondern lediglich eine durch die Nutzung einer Fernwaffe ausgelöste Folgeanpassung. Dies erklärt den anhaltenden Streit zwischen Soziologen, die sich mit dem menschlichen Verhalten in der Praxis beschäftigen, und denjenigen Soziobiologen, die darauf bestehen, menschliches Verhalten auf evolutionstheoretischer Ebene ebenso zu behandeln, wie das Verhalten anderer Lebewesen. Die Konflikte beruhen darauf, dass menschliches Verhalten heute den soziobiologischen Erklärungsrahmen tatsächlich in aller Deutlichkeit sprengt. Eine saubere Erklärung menschlichen Verhaltens auf evolutionstheoretischer Ebene erfordert die Berücksichtigung und das Verständnis kultureller Evolution. Für das Verständnis angeborener Mechanismen menschlichen Verhaltens kann man es im Prinzip mit einem Evolutionspsychologischen Ansatz versuchen, der davon ausgeht, dass die menschliche Psyche in der Vergangenheit an eine ganz andere Umwelt angepasst wurde. Hierbei ist jedoch entscheidend mit einem realistischen Ansatz für die angenommen evolutionären Entwicklungsbedingungen zu operieren. An dieser Stelle haben Evolutionspsychologen meines Erachtens versagt, den:

- Alle existierenden menschlichen Populationen leiten sich von einer kleinen, wahrscheinlich afrikanischen Population vor ca. 70 000 Jahren ab. Vergleichende Untersuchungen an rezenten Populationen können zwar genutzt werden um das Verhaltensrepertoire dieser Vorfahren zu rekonstruieren, sagen jedoch nichts darüber aus wann und warum sogenannte menschliche Universalien entstanden sind, die wir vermutlich von dieser Population geerbt haben. In der Regel könnte es sich dabei ebenso gut um kulturelle Neuerungen vor 70 000 Jahren handeln, wie um Eigenschaften, die das Verhalten unserer Vorfahren über den gesamten Verlauf der letzten 2 Millionen Jahre bestimmt haben, in denen sich das menschliche Gehirnwachstum abgespielt hat. Dummerweise reichen die Anfänge der vergleichenden Verhaltensforschung weit zurück in Zeiten, in denen Wissenschaftler weltweit überzeugt waren, dass die Wurzeln lokaler Populationen sehr weit zurück reichen. Vor hundert Jahren hielten europäische Wissenschaftler ihre eigene Rasse für so deutlich überlegen z.B. im Vergleich zu den Inuit, dass sie die Trennung der Entwicklungslinien vor ca. 3 Millionen Jahren veranschlagten. Die Verfechter der multiregionalen Entwicklung des modernen Menschen haben auch in der Folgezeit dafür gesorgt, dass ähnliche Vorstellungen in der wissenschaftlichen Diskussion nur sehr langsam an Bedeutung verloren. Dies führte unter Verhaltensforschern zu der Überzeugung mit vergleichenden Untersuchungen an Naturvölkern ein Mittel an der Hand zu haben, um einen Einblick in die Lebensweise unserer Vorfahren zu gewinnen, der den gesamten Zeitraum der Gehirnentwicklung abdeckt. Auf dieser - wie wir heute wissen - nicht tragfähigen theoretischen Grundlage haben inzwischen Generationen von Wissenschaftlern ihr Lebenswerk aufgebaut und enorme “Altlasten” angehäuft.
Auch die moderne Disziplin der Evolutionspsychologie hat entsprechende Grundannahmen in ihr Paradigma einfach übernommen. Die gesamte Altsteinzeit wird von vielen Evolutionspsychologen als eine Einheit behandelt und erst der Übergang zum Neolithikum als entscheidende Bruchlinie im menschlichen Verhalten. DasVerhalten von Jäger- und Sammlergruppen, die den Übergang zum Ackerbau noch nicht vollzogen haben wird so zum Modell für die Lebensweise unserer Vorfahren im gesamten Zeitraum der menschlichen Gehirnexpansion. Daran orientieren sich dann die Vorstellungen in welchem evolutionären Umfeld sich die menschliche Psyche entwickelt haben soll - woran wir also biologisch angepasst sind (”Mammutjäger in der Ubahn”). Das Alles entbehrt vollkommen der Grundlage, wenn wir davon ausgehen, dass alle heute lebenden Menschen im Verlauf der letzten 100 000 Jahren aus einer lokalen, wahrscheinlich afrikanischen Population hervorgegangen sind. Und diese Annahmen sind mehr als nur nicht begründet - sie sind mit Sicherheit falsch, weil die archäologischen Befunde auf weitere, dramatische Veränderungen im menschlichen Verhalten beim Übergang  zum modernen Verhalten des modernen Menschen hin weisen. Das Verhalten von Jägern und Sammlern ist in diesem Kontext als modern einzustufen und ist daher mit Sicherheit deutlich anders, als das Verhalten unserer Vorfahren im eigentlichen evolutionären Entwicklungszeitraum des menschlichen Gehirns zwischen 2,5 Millionen und 70 000 Jahren vor unserer Zeit.
Da Merkmale wie Religiosität, bei deren Entstehung memetische Selektion eine große Rolle gespielt haben dürfte, zu den Universalien menschlichen Verhaltens zählen, kann man getrost davon ausgehen, dass zumindest bei dem modernen Verhalten des modernen Menschen genetische Fitnessmaximierung nicht mehr vorausgesetzt werden kann. Das ist ein weiterer Grund den klassischen evolutionspsychologischen Ansatz zurückzuweisen, der davon ausgeht, dass das Leben als Jäger und Sammler (wie man es bei Naturvölkern beobachtet hat) als biologische Nische des Menschen zu interpretieren sei. Alle heute existierende Menschen sind ausgesprochene Kulturwesen und das schließt Jäger- und Sammlergesellschaften ausdrücklich mit ein.

Ich habe vor 10 Jahren bei dem Versuch im ZdW das Verhalten unserer Vorfahren im biologischen Entwicklungszeitraum zu rekonstruieren bewußt darauf verzichtet nach Belegen zu suchen, die in den Bereich des Verhaltens rezenter Menschen gehören. Damit habe ich eine Konsequenz aus der oben dargelegten Problematik gezogen und einen deutlichen Bruch zur wissenschaftlichen Tradition vollzogen. In dieser Hinsicht sehe ich mich als Pionier, denn dieser Bruch ist unerlässlich und findet allmählich auch in der wissenschaftlichen Diskussion statt. Die Rekonstruktion des Verhaltens unserer Vorfahren beruhte im SWAK-Modell und tut es auch weiterhin in der Armed Ape Theory, auf Interpretationen des Körperbaus - (der aus Fossilienfunden bekannt ist), vergleichenden Untersuchungen zum Verhalten von Schimpansen, archäologischen Funden und ökologischen Erwägungen. Natürlich standen mir damit weniger Daten zur Verfügung - aber es ist wesentlich besser beim Theorieenwurf mit weniger Daten arbeiten zu müssen, als von falschen Voraussetzungen auszugehen.

Anwendungsbeispiel Altruismus:

- Das Altruismus-Problem findet in der ArmAT seine Lösung darin, dass Menschen sich in genetischer Hinsicht tatsächlich altruistisch verhalten können, wenn nicht die Gene, sondern die Meme bei der Verhaltenssteuerung das letzte Wort haben. Für Verwirrung sorgt dabei, dass die einzelnen Merkmale menschlichen Verhaltens durchaus tiefe evolutionäre Wurzeln haben und analoge Merkmale auch für das fitnessoptimierte Verhalten anderer Primaten typisch sein können. Die Gene spielen bei der Steuerung unseres Verhaltens auch immer noch eine bedeutende Rolle - aber sie haben nicht mehr das letzte Wort. Es ist eher so wie bei dem Wirtsvogel, der die Eier eines Kuckucks ausbrütet. Die genetisch fixierten Verhaltensweisen, die er dabei an den Tag legt wurden ursprünglich als Werkzeuge zur Fitnessoptimierung entwickelt. Deren Anwendung in diesem Spezialfall machen aber den Vogel zu einem Dienstleister für den Kuckuck. Der Vogel verhält sich tatsächlich altruistisch dem Kuckuck gegenüber. Er zahlt drauf, während der Kuckuck profitiert. Die letzte Ursache für dieses Verhalten ist jedoch nicht mehr im Genom des Wirtsvogels zu suchen, sondern im Genom des Kuckucks, der sich darauf spezialisiert hat die Anpassungsleistungen von Wirtsvögeln für eigene Zwecke zu instrumentalisieren. Die Instrumentalisierung biologischer Anpassungsleistungen des Menschen durch die kulturelle Evolution läßt den Eindruck entstehen, als sei der Mensch von Natur aus ein Kulturwesen. Die Wirklichkeit sieht der ArmAT zufolge anders aus. Unsere Entwicklung zu ausgesprochenen Kulturwesen war keine Anpassungsleistung. Vielmehr haben wir als Nebenprodukt unserer speziellen Nischenanpassung ein hohes Niveau an Kulturfähigkeit entwickelt, das (vermutlich in einer speziellen Umgebung) zur Entstehung memetischer Überlieferungen geführt hat, die in der Lage waren die Führungsrolle bei der Verhaltenssteuerung an sich zu reissen.
Die Zusammenarbeit in grossen Gruppenverbänden basiert dabei der ArmAT zufolge evolutionstheoretisch in erster Linie auf memetischem Nepotismus - anders ausgedrückt handelt es sich um die Kooperation von “Brüdern im Geiste” die damit zur optimierten Ausbreitung ihrer gemeinsamen Meme beitragen. Hinter genetischem Altruismus verbirgt sich beim Menschen in der Regel memetischer Egoismus. Der katholische Priester verzichtet z.B. auf die Weitertgabe seiner Gene zugunsten der Weitergabe seiner religiösen Überzeugungen.

Anwendungsbeispiel “böse Schwiegermutter”:

Unter Berücksichtigung der oben skizzierten, theoretischen Erwägungen gelangte ich im ZdW vor 10 Jahren zu der Ansicht, dass menschliche Gruppen im eigentlichen evolutionären Entwicklungszeitraum schimpansenähnlich organisiert waren - sie waren “multimaskulin”. Das heißt, dass die Gruppen auf der Kooperation nah verwandter Männer basierten, die in ihrer Geburtsgruppe verblieben, während zumindest ein Teil der Frauen im Zeitraum zwischen der Pubertät und dem ersten Kind die Geburtsgruppe verließ. In multimaskulinen Verbänden konkurrieren die Männchen um den Zugang zu den Weibchen, daher kann die Vaterschaft des Einzelnen nicht als gesichert gelten. Die Vaterrolle ist daher unbesetzt und infolge dessen auch die Schwiegermutterrolle. Ältere Weibchen haben keinen besonderen Bezug zu den Enkeln, die von ihren Söhnen abstammen. Es kommt aber in den Fällen, in denen die Tochter in der Geburtsgruppe verbleibt sehr wohl zur Unterstützung dieser Töchter bei der Aufzucht derer Kinder. Die Schimpansen-Oma ist psychisch nur als Oma mütterlicherseits existent.
Im Falle des Menschen wurde schon seit längerem spekuliert, dass es sich bei der weiblichen Menopause und der langen, danach verbleibenden Lebensspanne, zum Teil um eine Anpassung an die Großmutterrolle handelt. Die Argumentation unterstellt, dass ältere Frauen auf die Geburt weiterer eigener Kinder “verzichteten” um statt dessen als “Helfer am Nest” bei der Aufzucht der Enkel noch einen Beitrag zum eigenen Reproduktionserfolg zu leisten. Die Strategie ergibt Sinn, weil beim Menschen die Kinder sehr lange abhängig sind. Das Investment einer alten Frau in eigene Kinder führt aber zum Totalverlust, wenn sie stirbt, bevor das Kind “aus dem Gröbsten raus” ist. Bei einem Enkelkind geht das Investment dagegen im Falle ihres Todes nicht verloren.
Eckard Voland hat - einem soziobiologischen Ansatz folgend - anhand von Eintragungen in Kirchenregistern versucht nachzuweisen, dass Enkel in geschichtlichen Zeiträumen tatsächlich von der Anwesenheit einer Großmutter im elterlichen Haushalt profitierten. Er verglich drei Kategorien von Haushalten hinsichtlich ihres Reproduktionserfolgs. Haushalte ohne Großmutter, Haushalte in denen auch die Mutter des Mannes lebte und Haushalte in denen die Mutter der Frau lebte. Letztere schnitten am besten ab und zogen die meisten Enkel auf. Die Haushalte, in denen die Mutter des Mannes lebte, schnitten dagegen am schlechtesten ab, obwohl man mit hoher Wahrscheinlichkeit davon ausgehen konnte, dass die Kinder tatsächlich ihre Enkel waren. Hier förderte die Oma anscheinend nicht die Aufzucht ihrer Enkelkinder, sondern stand ihr sogar im Wege! Dieser Befund, der nach dem Erscheinen des ZdW veröffentlicht wurde, erinnert an das alte Klischee der bösen Schwiegermutter, an dem beim Menschen unterm Strich wohl tatsächlich was dran ist. Soziobiologisch läßt sich dieser Sachverhalt nicht erklären und verweist daher darauf, dass das menschliche Verhalten die Grenzen des soziobiologischen Paradigmas sprengt. Dafür passt er aber hervorragend zu der oben dargelegten Annahme, dass menschliche Verbände in dem Zeitraum, in dem unsere Psyche evolutionär geprägt wurde, schimpansenähnlich strukturiert waren. Schimpansenweibchen unterstützen neu zugewanderte Weibchen nicht bei der Aufzucht der eigenen Enkel (weil die Vaterschaft ihrer Söhne nicht gesichert ist) sondern behandeln sie als Konkurrentinnen um die verfügbaren Ressourcen, die sie lieber für sich und die eigenen Töchter haben würden. Ohne dies zu wollen, hat Eckard Voland hier einen wertvollen Beleg für die ArmAT und die bereits im ZdW vor 10 Jahren gewählte Vorgehensweise geliefert.

Anwendungsbeispiel Religion:

Manchen Verhaltensäußerungen sieht man ihren Ursprung förmlich an. So leitet sich die gesellschaftliche Funktionalität religiöser Überlieferung sicherlich überwiegend aus memetischer Evolution ab. Bei markanten religiösen Wendepunkten spielte auch immer wieder das schöpferische Gehirn einzelner Menschen eine herausragende Rolle (Christus, Buddha, Marx, Mohammed). Derartige kreative Explosionen haben jedoch nur dann langfristigen Einfluß auf die kulturelle Evolution, wenn sie nach ihrer Entstehung auch memetisch erfolgreich sind. Dies ist eine entscheidende Schwäche der Aufklärung. Eine Population intelligenter Individualisten, deren wichtigste gemeinsame, kulturell überlieferte Überzeugung darin besteht, kulturellen Glaubenssätzen zu mißtrauen, hat kulturell gut organisierten Horden von Menschen, die sich darin einig sind, ihren Verstand nicht über die Maßen zu strapazieren wenig entgegenzusetzen. Das Wiedererstarken religiöser Bewegungen beruht heute nicht auf geistigen Höchstleistungen, sondern auf der hohen Bedeutung memetischer Evolution für den Verlauf der kulturellen Entwicklung. Intellektuell betrachtet ist Gott auch heute noch tot und es spricht wenig für seine Wiederauferstehung - gesellschaftlich dagegen ist er quicklebendig und sogar noch auf dem Vormarsch.

Warum die Neandertaler ausstarben

24. Oktober 2009

Diesen Titel hat ein angeblicher Übersichtsartikel von Kate Wong im aktuellen Spektrum der Wissenschaft (Heft 11/2009).

Von “angeblich” spreche ich, weil der beschränkte Blickwinkel, der fehlende Ausblick über den engen europäischen Tellerrand hinaus ein herausragendes Merkmal dieses Artikels ist. Hier beschäftigt sich Kate Wong mit dem Verschwinden der Neandertaler im Zeitraum irgendwo zwischen 60 000 und 20 000 Jahren vor unserer Zeit. Dass der aus Afrika stammende moderne Mensch dabei eine Rolle gespielt haben könnte wird zwar diskutiert, völlig übergangen wird jedoch der Tatbestand, dass im leicht erweiterten Zeitraum zwischen 70 000 und 12 000 Jahren vor unserer Zeit nicht nur die Nachkommenlinien der Neandertaler aus der genetischen Überlieferung der Menschheit getilgt wurden, sondern auch nahezu alle anderen! Wir stammen alle wahrscheinlich von einer lokalen, afrikanischen Population vor ca. 70 000 Jahren ab, die lediglich etwa 10 000 Individuen umfaßte.

Nicht nur die Neandertaler scheinen keinen Beitrag zum Erbgut der heutigen Weltbevölkerung geleistet zu haben, das Gleiche trifft auch auf die meisten anatomisch modernen Menschen zu, die vor 70 000 Jahren gelebt haben und deren Zahl sicher weit über die 10 000 Individuen hinaus ging, deren Nachkommen wir sind. Die nächsten ausgestorbenen Verwandten im Stammbaum des Menschen sind wahrscheinlich gar nicht - wie in dem Artikel behauptet - die Neandertaler, sondern die anderen Populationen des Homo sapiens, die von unseren Vorfahren in Afrika ebenso gründlich abgelöst wurden, wie die Neandertaler in Europa. Außerdem sind auch die genetischen Linien aller archaischen asiatischen Populationen gekappt worden - vom späten asiatischen Homo erectus bis hin zum inzwischen legendären Homo floresiensis. Macht es da wirklich Sinn zu vermuten, dass bei jeder lokalen Restpopulation der Neandertaler eine andere Kombination von Ursachen den letzten Ausschlag für deren Aussterben gab?

Mehr als 99% aller Menschen, die vor 70 000 Jahren gelebt haben, haben eines gemeinsam - ihr Erbgut ist aus dem menschlichen Genpool verschwunden. Dies geschah naturgemäß an jedem einzelnen Ort der damals von Menschen bewohnten Welt unter anderen, lokalen Bedingungen. Dessen ungeachtert war dieser Vorgang ein globales Phänomen das nach Ursachen verlangt, die global zur Wirkung gelangen konnten.

Hat wirklich der Zufall den Weg frei gemacht für den Siegeszug unserer Vorfahren? Wurden die afrikanischen Konkurrenten und die Hobbits durch Vulkanausbrüche hinweggefegt und anschliessend durch unsere Vorfahren ersetzt? Wurden in der Zwischenzeit rein zufällig die Neandertaler durch Klimaschwankungen, Krankheiten und Inzucht dezimiert um gleich anschliessend durch unsere Vorfahren ersetzt werden zu können, ohne dass sich diese dabei irgendwie an ihren nahen Verwandten versündigen mussten? Und welche Naturkatastrophe könnte für den späten Homo erectus Asiens in Frage kommen - vielleicht die Sintflut?

Ich für meinen Teil bleibe bei der von mir 1999 formulierten Hypothese, dass bei unseren Vorfahren vor ca. 70 000 Jahren eine kulturelle Revolution stattgefunden hat, mit tiefgreifenden Verhaltensänderungen, die unter Anderem auch die Reproduktionsstrategien betrafen. Ähnlich wie später im Neolithikum initiierten kulturelle Verhaltensänderungen einen langanhaltenden Verdrängungsprozess. Allerdings war die kulturelle Revolution vor 70 000 Jahren viel wichtiger für das menschliche Verhalten. Die Veränderungen waren grundsätzlicher und tiefgreifender. Aus evolutionstheoretischer Sicht büßte damals die genetische Evolution ihren Führungsanspruch bei der Gestaltung des menschlichen Verhaltens ein. An ihre Stelle trat die kulturelle Evolution (siehe ZdW 1999).

Da kulturelle Informationen nicht nur von Eltern auf ihre Kinder übertragen werden können, sondern auch unabhängig von den Abstammungslinien, kann die memetische Verwandtenselektion prinzipiell eine wesentlich höhere Reichweite entwickeln, als die genetische (insbesondere bei Menschen mit ihrer geringen Reproduktionsrate). Ein entscheidender Faktor ist hierbei, wie ich bereits im ZdW betont habe, die Gruppengröße. In einer größeren Gruppe sind die Mitglieder zwangsläufig genetisch weniger nah miteinander verwandt. Memetisch trifft dies jedoch nicht automatisch ebenfalls zu. Mit zunehmender Gruppengröße kann es daher zunehmend zu einer Divergenz genetischer und memetischer Interessen kommen. Während die Meme bei ihrer Ausbreitung von einer engen Kooperation aller Gruppenmitglieder mit der gleichen kulturellen Überlieferung profitieren können, ist es aus genetischer Sicht einzelner Gruppenmitglieder günstiger den eigenen Fortpflanzungserfolg insbesondere auf Kosten nicht verwandter Gruppenmitglieder zu steigern. Mit zunehmender Gruppengröße und der damit einhergehenden, im Durchschnitt geringeren genetischen Verwandtschaft kommt es beim Menschen daher automatisch zu einem sich zuspitzenden Konflikt zwischen genetischen und memetischen Interessen.

Für die Größe eines Primatenverbandes scheinen die Anforderungen bei der Nahrungssuche eine entscheidende Rolle zu spielen. Vermutlich gab es im Evolutionszeitraum des Menschen keine Zielkonflikte zwischen Genen und Memen, weil die Gruppengröße grundsätzlich mit Rücksicht auf die Erfordernisse bei der Nahrungssuche im unterkritischen Bereich blieb. Dies hat sich dann wohl an der afrikanischen Ostküste infolge der Nutzung mariner Nahrungsressourcen geändert. Mit zunehmender Bevölkerungsdichte an einzelnen nahrungstechnisch besonders ergiebigen Küstenabschnitten kam es auch zur Entwicklung der bis dahin größten menschlichen Gruppenverbände mit den ausgeprägtesten Zielkonflikten zwischen kultureller und organischer Evolution. Es entstanden Hot Spots der kulturellen Evolution, in denen fleißig mit kulturellen Überlieferungen herumexperimentiert wurde, die zur Stabilisierung immer größerer Gruppenverbände führen konnten - in der Regel auf Kosten der genetischen Fitnessmaximierung einzelner Gruppenmitglieder. Durchgesetzt hat sich am Ende eine lokale, kulturelle Tradition, zu deren kulturellen Innovationen wahrscheinlich der Schamanismus und die Ehe gehörten. Mit der Einführung der lebenslangen Zuordnung von Sexualpartnern wurde ein entscheidender kultureller Beitrag zur Stabilisierung größerer Gruppenverbände geleistet. Die gesellschaftliche Sprengkraft sexuell motivierter Konflikte wurde verringert, indem festgelegt wurde, für wen die Gruppenmitglieder im Konfliktfall Partei zu ergreifen hatten. Entscheidend aus kultureller Sicht war nicht, daß es keine Ehebrüche gab, sondern, daß daraus keine Konflikte erwuchsen, die die Gruppe als Ganzes gefährden konnten. Die Ehebrecher wissen, daß sie etwas Verbotenes tun und verhindern Konflikte dadurch, daß sie es heimlich tun. Werden sie erwischt, dann ist die Schuldfrage von vorn herein klar und das gesellschaftliche Problem kann durch Bestrafung aus der Welt geschafft werden - in der Regel ohne daß die nahen Verwandten der Sünder deren Partei ergreifen und den Konflikt damit eskalieren lassen.

Nachdem die kulturellen Anpassungsleistungen zur Stabilisierung großer Gruppenverbände unter optimalen Bedingungen entstanden waren, konnten sie von unseren Vorfahren mit der Zeit auch auf andere Lebensräume übertragen werden, in die sie vordrangen. Als Jäger und Sammler mußten sie sich dann halt regelmäßig treffen, um (unter Anderem durch Austausch von Frauen) die Existenz des Stammesverbandes zu gewährleisten. Anschliessend zerfielen sie wieder in kleinere Einheiten, die der Nutzung ihrer Ressourcen angemessener waren. Was jedoch blieb, war die Möglichkeit gemeinsamen Handelns. Territorialkonflikte konnten gemeinsam ausgefochten werden - und das bedeutete, daß alle ursprünglichen Populationen, die keine kulturelle Revolution durchgemacht hatten im Konfliktfall hoffnungslos unterlegen waren.

In gewissem Sinne war die Ehe der Neandertaler Tod.

Daß die Verdrängung der Neandertaler so lange dauerte ist nicht überraschend. Das eiszeitliche Europa liess nur eine sehr geringe Bevölkerungsdichte zu und schmälerte damit die Vorteile, die aus der neuen gesellschaftlichen Organisation gezogen werden konnten. Im Konfliktfall schmälert darüber hinaus auch ein gebirgiges Gelände den Vorteil größerer Verbände - Gebirge sind typische Rückzugsgebiete, in denen sich auch kleine Populationen unter Ausnutzung des Heimvorteils lange halten konnten. Darüber hinaus waren die Neandertaler an das Leben unter den extremen europäischen Bedingungen biologisch angepasst. Es ist daher naheliegend, daß die Neandertaler nicht gleich in einem Blitzkrieg komplett ausgerottet wurden, sondern erst aus den ergiebigsten Territorien verschwanden um dann in stark fragmentierten Rückzugsgebieten auch unter dem Einfluß von Inzucht allmählich endgültig unter zu gehen. Vermutlich wurden ohnehin nur sehr wenige Neandertaler tatsächlich von modernen Menschen getötet. Das erscheinen zahlenmäßig stark überlegener Gegner genügte in der Regel wahrscheinlich um die Neandertaler zum Rückzug zu bewegen. Die Konflikte fanden dann in erster Linie unter den Neandertalern um den verbliebenen Lebensraum statt. Die Bedeutung der Ehe für das moderne Verhalten des modernen Menschen könnte erklären, warum die genetische Verdrängung (nicht nur im Falle der Neandertaler) so gründlich ablief. Ich kann mir nur schwer vorstellen, dass es beim Vordringen unserer Vorfahren nicht auch regelmässig zur Vermischung mit lokalen Populationen kam. Die deutlich überlegenen Invasoren werden sicher mehr als nur eine einheimische Frau geschwängert haben. Die entscheidende Frage ist jedoch, was aus den Mischlingen dann wurde. Um eine Integration solcher Kinder in die modernen Gruppenverbände zu ermöglichen hätte der Vater die Mutter zur Frau nehmen müssen. Stammesverbände achten jedoch in der Regel darauf, daß nur innerhalb des Stammes geheiratet wird - sie sind auf Stammesebene endogam. Und die deutliche organisatorische Überlegenheit der Invasoren ließ wenig Raum dafür, im Enzelfall bei der Verbindung mit einer eingeborenen Frau aus bündnistechnischen Gründen doch eine Ausnahme zu machen. Die Mischlinge blieben also unehelich und damit bestenfalls Bestandteil der verbleibenden Eingeborenenpopulationen, mit denen gemeinsam sie dann doch noch untergingen. Vermutlich wurden die Eingeborenen ohnehin als minderwertige Wilde angesehen, so daß Männer nicht den geringsten Drang verspürten eine Frau solcher Herkunft tatsächlich zu ehelichen. Ob es sich bei den eingeborenen dabei um Neandertaler, moderne Menschen oder Homo erectus - Frauen handelte, spielte eine untergeordnete Rolle.

Vergleich Sprinter/Werfer

4. September 2009

Die menschliche Wurfbewegung ist sehr kompliziert und die für mich aufgrund meiner technischen Vorbildung offensichtliche Spezialisierung des menschlichen Körperbaus für die meisten Anthropologen nur sehr schwer nachzuvollziehen - zumal in deren Lehrbüchern steht, der Mensch sei ein unspezialisiertes Wesen. Ich möchte daher hier versuchen die menschliche Spezialisierung durch einen Leistungsvergleich mit einem unbestrittenen Spezialisten - dem Geparden - zu veranschaulichen.

Geparden sind mit einer Spitzengeschwindigkeit von ca. 110 km/h die schnellsten Läufer unter den Säugetieren. Daß es sich bei den Geparden um in höchstem Maße spezialisierte Sprinter handelt ist unbestritten. Ein direkter Vergleich mit den Wurfleistungen beim Menschen wird durch eine Randbedingung möglich, die in beiden Fällen erfüllt werden muß und die Höchstleistungen limitiert. Im Gegensatz zu einem fliegenden Vogel muss ein Läufer sich von einem festen Untergrund abstossen. Das bedeutet, dass verschiedene, miteinander natürlich in Verbindung stehende Körperteile zur gleichen Zeit sehr unterschiedliche Geschwindigkeiten aufweisen müssen. Während der Körperschwerpunkt des Geparden mit 110 km/h durch die Savanne rast, haben die Tatzen, mit denen er sich abstößt natürlich die Geschwindigkeit des Bodens, also 0 km/h.

Die maximale Geschwindigkeitsdifferenz zwischen Körperschwerpunkt und Extremitätenspitze ist eine Größe, die den Vorteil besitzt einen direkten Vergleich der Leistungen von Geparden beim Rennen und Menschen beim Werfen zu ermöglichen. Um nämlich bei einem Baseball eine Abwurfgeschwindigkeit von 160 km/h zu erzeugen - und es gibt eine Reihe von Spitzenathleten, die dies können - müssen zumindest die Fingerspitzen auf die gleiche Geschwindigkeit beschleunigt werden. da der Wurf beim Baseball aus dem Stand erfolgt, kann man davon ausgehen, dass die Geschwindigkeit des Körperschwerpunktes zum gleichen Zeitpunkt vernachlässigt werden kann.

Menschen erzeugen also beim werfen Relativgeschwindigkeiten der Extremitätenspitzen zum Körperschwerpunkt,
die um rund 50 km/h höher liegen als beim Sprint eines Geparden!

Es grenzt schon an ein Wunder, dass dies physikalisch überhaupt möglich ist. Der Grund hierfür ist beim nicht repititiven, asymmetrischen Charakter des Werfens zu suchen, der die Integration einer Oberkörperrotation in den Beschleunigungsprozeß erlaubt. Auch der Zusatzbeschleunigung aus dem Handgelenk kommt beim Werfen eine hohe Bedeutung zu, was Anatomen leicht in die Irre führen kann. Man sieht es dem menschichen Arm eben nicht an, dass er für die Erzeugung von Höchstgeschwindigkeiten optimiert wurde. Die Extremitäten von tierischen Sprintern sind zum Ende hin in der Regel extrem schlank und leicht gebaut - die Zusatzbeschleunigung aus dem Handgelenk beim Werfen erfordert aber eine kräftige Unterarmmuskulatur und sorgt dafür, dass die Form des Armes für eine Extremität, die extreme Leistungsfähigkeit beim Erzeugen von Spitzengeschwindigkeiten ermöglicht aus anatomischer Sicht recht überraschend ausfällt.

Fakt ist jedoch, dass diese Spitzengeschwindigkeiten erzeugt werden und die entsprechenden Werte beim hochspezialisierten Gepard noch einmal um rund 40% übertreffen. Das geht rein physikalisch betrachtet nur mit einem für diesen Zweck optimierten Körperbau.

Die anthropologische Lehrbuch-Behauptung der menschliche Körperbau sei unspezialisiert ist schlicht falsch!

Stellen Sie sich vor, eine Gruppe von Biologen würde ein umfangreiches Werk über die Evolution von Geparden veröffentlichen, in dem keinerlei Anpassungen an das Sprinten Berücksichtigung gefunden hätten. Wenn Sie sich das im Detail ausgemalt haben, dann haben Sie eine einigermaßen realistische Vorstellung davon, wo Humanbiologie und Paläoanthropologie heute stehen.

“Der Blinde Uhrmacher” und “Das Egoistische Gen”von Richard Dawkins

2. September 2009

Richard Dawkins kann heute als mein unangefochtener Lieblingsautor zu evolutionären Fragestellungen gelten. Leider habe ich ihn erst relativ spät für mich entdeckt. Bei der Arbeit am ZdW konnte ich daher weder auf den “Blinden Uhrmacher” noch auf sein “Egoistisches Gen” zurück greifen. Dennoch sind beide Bücher hervorragend geeignet, um meine Argumentationsweise im ZdW evolutionstheoretisch zu stützen.

Der Blinde Uhrmacher befaßt sich mit der zentralen Bedeutung der Frage nach der Entstehung funktionaler Komplexität für evolutionstheoretische Überlegungen. Der enorme Umfang der mit dem Werfen assoziierten funktionalen Komplexität war das Werkzeug, das ich ins Feld geführt habe, um das Werfen als Anpassungsleistung zu identifizieren. Ein Blick in den Blinden Uhrmacher zeigt, dass ich hier mit meiner Argumentationslogik in bester evolutionstheoretischer Tradition gestanden habe und untermauert die evolutionstheoretische Relevanz des von mir gewählten Ansatzes - der sich in der Zwischenzeit ja auch hervorragend bewährt hat. Man braucht nur den von mir im ZdW kreierten Begriff der technischen Anforderungshöhe durch Richard Dawkins’ inhaltlich gleich besetztes Begriffspaar der “Funktionalität und Komplexität” zu ersetzen - und schon verwandelt sich “Der blinde Uhrmacher” in ein Plädoyer für die evolutionstheoretische Relevanz meiner Werfer-Hypothese, die wiederum den festen Kern der ArmAT darstellt.

Das “Egoistische Gen” sei jedem empfohlen, der sich Gedanken zur Relevanz der Soziobiologie für das Verständnis menschlichen Verhaltens macht. Im letzten Kapitel warnt Richard Dawkins ausdrücklich davor anzunehmen, dass auch menschliches Verhalten hinsichtlich des Fortpflanzungserfolgs optimiert ist und verweist auf die potentielle, evolutionstheoretische Relevanz der kulturellen Entwicklung. An dieser Stelle führte er auch den Begriff Mem als kultuelles Gegenstück zum biologischen Gen ein und begründete damit die Memetik - eine Disziplin, die bis heute leider in den Kinderschuhen steckengeblieben ist und unter zahlreichen Kinderkrankheiten leidet. 
Leider habe ich bei der Arbeit am ZdW versucht gerade im Falle der Soziobiologie, die damals eine noch sehr junge und ausgesprochen dynamische Disziplin war, mich auf möglichst aktuelle Veröffentlichungen zu stützen. Dies hat dann dazu geführt, dass ich mich mit dem “Zwerg” Wuketits auseinandergesetzt habe, wo ich mich bequem auf die Schultern des “Riesen” Dawkins hätte stellen können. Es hat aber auch Vorteile, wenn man sich das, was andere bereits gut 20 Jahre früher gewußt haben erst mühsam erarbeiten muß. Im Falle des ZdW hat dies dazu geführt, dass meine Überlegungen zur kulturellen Evolution recht eigenständig ausgefallen sind und stellenweise deutlich über den Vorstoß von Richard Dawkins im “Egoistischen Gen” hinaus gehen - allerdings ohne ihm zu widersprechen. “Das egoistische Gen” ist daher hervorragend geeignet, um meine Überlegungen zur kulturellen Evolution im ZdW evolutionstheoretisch zu unterfüttern.